Die Lady mit der Feder - Roman
Schlüssel, den sie unter ihrem Gewand trug. Sie stellte sich vor, wie sie vor die Königin hintrat und ihr die Metallkassette präsentierte. Jordan würde an ihrer Seite stehen, stattlich aussehend und würdig, ein Lehnsmann des Königs zu sein. Konnte er den Schmerz aus vergangenen Kämpfen überwinden, wenn er sah, dass mit der Übergabe der Kassette an die Königin ein Krieg abgewendet worden war?
»Mylady, Ihr seht jetzt, warum wir stolz auf unseren Chor sind«, sagte der Kanonikus und riss sie aus ihren Überlegungen. »Mehrere Meister der Holzschnitzkunst arbeiteten daran.«
»Er ist wunderschön.« Sie sah die Holzbänke, die einander
auf dem Steinboden gegenüberstanden. Säulen prangten in farbenfroher Bemalung, das durch die darüberliegenden Fenster einfallende Licht schenkte dem Raum Wärme. Irgendwie verströmte dieser Bereich der riesigen Kathedrale eine gewisse Intimität.
Jordan deutete auf die Klappsitze. Einige waren aufgeklappt, um zusätzliches Schnitzwerk zu zeigen. »Welcher Meister verbarg sein Werk unter dem Chorgestühl?«
»Das sind Miserikordien«, sagte der Kanonikus. »Zum Glück sieht man sie in England selten, während sie meines Wissens auf dem Kontinent oft in Kirchen anzutreffen sind.«
»Was sind Miserikordien?«
»Es sind Notsitze oder Stützen für ältere und gebrechliche Priester und Brüder, denen die Messe zu lange dauert.« Isabella kniete nieder, um sich die aufgeklappte Bank näher anzusehen. »Als Kunstwerke sind sie nicht ernst zu nehmen. Sie zeigen biblische Szenen, die der Künstler nach Gutdünken gestaltet - meist scherzhaft oder grotesk.« Sie legte eine Hand auf den Sitz, hob einen anderen an und deutete auf eine Engelsgestalt, die auf ein Kind in ihren Armen hinunterblickte. »Meist sind diese Miserikordien versteckt, doch während der Gottesdienste, wenn das Chorgestühl geöffnet ist, sieht man die Figuren.«
»Soll das ein Schwein sein?« Jordan ging in die Hocke und lachte. »Es spielt auf einer Flöte.«
Wieder seufzte Kanonikus Anthony. »Die Holzschnitzer nahmen sich zu viele Freiheiten heraus. Bischof Alexander, der hier vor fünfzig Jahren, als die Kirche brannte, das Amt versah, hatte im Gefolge des Brandes so viel zu tun, dass er
nicht alle Handwerker überwachen konnte, und das ist das Ergebnis.«
Ein Mönch kam eilends daher, der Mann, der ausgeschickt worden war, um die Kassette zu finden. Als Isabella sah, dass er mit leeren Händen kam, atmete sie bebend ein.
»Ich durchsuchte die Sachen, die der Bischof in seinem Arbeitsraum zurückließ«, sagte der Mönch. »Ich konnte dort keine Metallkassette finden.«
»Gibt es andere Stellen, wo sie sein könnte?«, fragte Isabella mit zitternder Stimme. Sie durfte die Königin nicht enttäuschen. Sie durfte die Abtei nicht enttäuschen!
»Ihr dürft nicht verzweifeln, Mylady«, sagte der Kanonikus tröstend. »Wir werden die ganze Kathedrale und das Domkapitel durchsuchen. Der Bischofspalast ist zwar nicht viel mehr als eine Ruine, aber auch dort werden wir Nachschau halten.«
»Wie lange könnte das dauern?«
»Müsst Ihr diese Kassette aus einem bestimmten Grund so rasch finden?«
»Ja.« Sie versuchte, sich eine Geschichte auszudenken, die keine Lüge war. Dass die Äbtissin darauf bestanden hatte, Isabella müsse die Kassette noch vor Ablauf des Monats, also in knapp vierzehn Tagen, der Königin bringen, konnte sie ihm nicht sagen. Die Eingebung kam ihr, als sie sagte: »Lord de Courtenays Tante bat uns, Ende des Monats April zurückzukehren. Sie muss einen guten Grund für diese Bitte haben.«
»Nun, dann werden wir uns bemühen, das Gesuchte bis dahin zu finden.« Er schenkte ihnen ein glückseliges Lächeln. »Verliert Euren Glauben nicht, Mylady.« Mit einem Blick, der
Jordan galt, sagte er: »Wo sollen wir Euch benachrichtigen, wenn wir das Gesuchte finden sollten?«
»In Lord d’sAlpins Haus an der Ermine Street.«
»Lord d’sAlpin?« Der Kanonikus erbleichte. »Ich wusste nicht … das heißt, wir werden alles tun, um die Kassette schleunigst zu finden.« Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich mit dem Mönch.
Jordan runzelte die Stirn. »Ich hatte keine Ahnung, dass d’sAlpins Name bei einem geistlichen Herrn eine solche Reaktion hervorrufen würde.«
Auf dem Weg zum Portal gab Isabella keine Antwort. Sie musste die letzten Reste ihrer Hoffnung zusammenraffen und fest im Glauben bleiben, wie ihr der Kanonikus geraten hatte.
»Es tut mir leid«, sagte Jordan, als sie in
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