Die Lagune Der Flamingos
Marlena hinaus.
Vollkommen in Gedanken kehrte sie spät in der Nacht zurück. Als sie endlich den Gang erreichte, in dem ihr Zimmer lag, atmete Marlena erstmals durch. Ihr Kopf schwirrte von unzähligen Ideen und Formulierungen. Sie hielt einen Moment erschreckt inne, als der Boden unter ihren Füßen knarrte, doch alles blieb still. Von weiter weg hörte sie die Standuhr ticken, dann schlug die Uhr die Stunde. Elf Schläge. Elf Uhr schon! Sie hatte die Zeit vollkommen vergessen. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Leise öffnete Marlena die Tür und schob sich hindurch, um sie gleich wieder hinter sich zu schließen. Im Dunkeln tastete sie nach dem Lichtschalter und fuhr im nächsten Moment mit einem leisen Aufschrei zusammen.
»Estella!«
»Wo warst du?«, warf Estella der Freundin wütend entgegen und sprang von Marlenas Bett auf. »Den ganzen Tag lang behandelst du mich wie eine Aussätzige. Ich muss arbeiten, Estella, nein, ich kann jetzt nicht mitkommen … Wo warst du, verdammt? Ach, nein, du musst gar nichts sagen, du warst mit ihm unterwegs. Warum habt ihr mich nicht mitgenommen? Du hast es nach dem letzten Mal versprochen!«
Voller Unbehagen erinnerte Marlena sich daran, dass sie Estella gleich nach deren Rückkehr aus Tucumán tatsächlich von ihrem Abenteuer erzählt und großmütig zugestimmt hatte, als diese sie darum bat, einmal mitkommen zu dürfen.
»Ich dachte, wir wären Freundinnen«, schrillte Estellas Stimme erneut in ihr Ohr.
Beunruhigt horchte Marlena an der Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand auf sie aufmerksam geworden war.
»Sei leise, um Himmels willen. Wissen Julius und Mama …?«
»Nein, ich habe ihnen gesagt, du hättest plötzlich Kopfschmerzen bekommen und seist früh zu Bett gegangen. Sie haben es nicht überprüft.«
»Danke, Estella.«
»Danke, Estella«, äffte die Freundin sie nach.
Marlena dachte daran, dass sie dieses Mal nach Estellas Rückkehr aus Tucumán die Nacht nicht miteinander verschwatzt hatten. Etwas hatte sich verändert zwischen ihnen. Zuerst hatte sie es sich nicht eingestehen wollen, nun wurde es deutlich: John war in ihr Leben getreten.
Die beiden Freundinnen blickten einander an. Estella verzog das hübsche Gesicht, ihre Augenbrauen bildeten eine geradezu drohende Linie.
»Wenn ihr mich allerdings beim nächsten Mal auch nicht mitnehmt, liebste Freundin, sage ich deinen Eltern die Wahrheit.«
Marlena nickte langsam. Estellas Wut, musste sie zugeben, überraschte sie dennoch. Sie waren doch immer mal wieder getrennte Wege gegangen und hatten sich das nicht gegenseitig vorgeworfen. Ihre Interessen waren ja auch unterschiedlich. Nun, womöglich lag es daran, dass Estella es gewöhnt war, stets zuallererst die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sicherlich machte es ihr zu schaffen, dass es dieses Mal nicht so war.
Mit einem Seufzer setzte Marlena sich an den Schreibtisch, um rasch doch noch einige Programmpunkte für die Feiern zum Kaisergeburtstag durchzugehen. Sie musste es tun, auch wenn sie todmüde war. Wie jedes Jahr würde sie ein Gedicht vortragen müssen, und es hatte sie schon in leichte Verzweiflung gestürzt, dass sie sich die Worte dieses Mal einfach nicht merken konnte. Estella würde singen. Sie hatte eine sehr schöne Stimme.
Ach Gott, Marlena seufzte noch einmal, während sie das Gedicht stumm zum zehnten Mal wiederholte. Nach dem, was sie heute wieder gesehen hatte, kam ihr das alles schrecklich kindisch vor. Es wurde wirklich Zeit, dass sie ihre eigenen Wege gehen und ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte. Sie musste den warmen, sicheren Kokon ihres Elternhauses hinter sich lassen. Mit dem heutigen Tag war abermals unwiderruflich ein Teil ihrer Kindheit entschwunden.
Dreizehntes Kapitel
Als Isolde Hermanns auf die Bühne trat, rollte die hübsche Estella nur mit den Augen. Die Darbietungen der dicklichen Isolde boten immer reichlich Anlass zu unfreiwilliger Komik. Dieses Mal trug das blasse Mädchen, dessen Wangen heute allerdings hochrot leuchteten, das lange blonde Haar offen. Zum üblichen weißen Rock und der weißen Bluse, die die Schülerinnen der Mädchenschule trugen, hatte sie sich in einen Umhang gehüllt, schwarz-weiß-rot, die Farben der Reichsfahne, und trug eigens verfasste vaterländische Verse vor.
Obwohl Marlena immer noch nicht entschieden hatte, wie sie mit der Art und Weise umgehen sollte, mit der Estella sich zwischen John und sie zu drängen suchte – sie war sogar böse auf die
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