Die Lagune Der Flamingos
schmalen Augenbrauen. »Und nein, ich spreche nicht über Ihren Vater, wenn er das denn war. Man hört schließlich so einiges über Ihre Mutter. Sie haben einen Halbbruder, oder etwa nicht?«
Estella war jetzt bleich vor Wut. Ihre Lippen bebten, so sehr kämpfte sie, sich zu beherrschen.
»Unterstehen Sie sich, meine Mutter zu beleidigen, sonst …«
»Sonst, was? Wollen Sie sich mit mir duellieren?« Fräulein Lewandowsky schüttelte den Kopf und ließ ein freudloses Lachen hören. »Seien Sie sich darüber im Klaren, dass ich in jedem Fall am längeren Hebel sitze.«
»Estella!«, bat Marlena und versuchte nun, die Freundin mit sich zu ziehen, denn von der Bühne her näherten sich Isolde und ihre Eltern.
»Komm schon«, zischte Marlena ihrer Freundin nochmals verzweifelt zu. »Man wartet auf uns.«
Endlich gab Estella nach, und Marlena konnte sie mit sich ziehen.
Während der gesamten Strecke bis nach Hause schwieg Estella, und wenn Julius und Anna die kühle Stimmung auch auffallen musste, so sagten sie doch nichts. Erst als Marlena und Estella in Marlenas Zimmer standen, in dem sie so viel Zeit gemeinsam verbracht hatten, erwachte Estella aus ihrer Erstarrung.
»Warum hast du nichts gesagt, Marlena? Warum hast du nichts gesagt, als sie mich und meine Mutter beleidigt hat? Ich dachte, du wärst meine Freundin!«
Marlena starrte Estella an, zuckte dann unsicher die Achseln. Estella hatte Recht. Sie hatte die Freundin im Stich gelassen. Auch jetzt wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Der Graben, der sich zwischen ihnen gebildet hatte, riss noch ein Stück weiter auf.
Vierzehntes Kapitel
Bestimmt war es etwas lächerlich, aber seit jener Entführung vor nun ungefähr fünf Jahren bereiteten Estella enge, dunkle Räume Schwierigkeiten. In einer der Massenunterkünfte war sie zudem noch nie gewesen. Wo sich einst nur eine reiche Familie samt Dienerschaft ausgebreitet hatte, wohnten nun zahllose Familien, aber auch Einzelpersonen jeglichen Alters dicht an dicht. Den Geruch, der von diesen vielen Menschen ausging, konnte man fast greifen.
Inzwischen hatte Estella den zweiten Hof erreicht. Kinder spielten dort. Einige Frauen kochten, andere schwatzten. Ein Dunst von Kartoffel-Tomaten-Gemüse lag in der Luft. Blicke streiften Estella, während die sich vorsichtig vorwärtsbewegte.
Obwohl Estella ein schlichtes Kleid angezogen hatte, wohl aber eines, das ihr besonders gut stand – darauf hatte sie einfach nicht verzichten können –, fiel sie hier auf. Sie bemerkte es an den Blicken, die ihr stetig folgten.
Und ich brauche jetzt dringend jemanden, der mir hilft.
Nachdem sie einige Minuten gezögert hatte, fasste sich Estella endlich ein Herz und steuerte auf eine der kochenden Frauen zu. Auf größere Entfernung hatte sie die Frau für älter gehalten, älter gewiss als Viktoria, ihre Mutter, die in diesem Jahr einundvierzig Jahre alt werden würde. Je näher Estella der Frau kam, desto deutlicher wurde, dass sie sich getäuscht hatte. Sie war noch jung, jedoch verhärmt und außerdem viel zu dünn. In einem Korb zu ihren Füßen lag ein Säugling, zwei kleine Kinder klammerten sich an ihren Rock. Die Frau sah Estella misstrauisch an. Diese, von dem skeptischen Blick verunsichert, brauchte einen Moment, bevor sie ihre Frage aussprechen konnte.
»Entschuldigen Sie, Señora, ich suche einen John Hofer.«
Die Frau antwortete nicht, machte aber eine knappe Kopfbewegung zum dritten Patio hin. Estella bedankte sich erleichtert und reichte ihr eine kleine Münze, die sie wortlos in die Tasche ihres blaugrauen Rockes steckte.
Auch im dritten Patio saßen, standen und kauerten Menschen, so dicht beieinander, dass Estella wieder unbehaglich zumute werden wollte. Hier waren es zumeist Männer. Einige waren wohl gerade von der Arbeit gekommen, andere brachen irgendwohin auf. Ein paar spielten ein Würfelspiel. Einer wusch sich prustend über einem Zuber mit Wasser.
Estella entdeckte John inmitten einiger junger Burschen, die aufmerksam an seinen Lippen hingen. Obwohl sie nur stehen blieb und zu ihm hinübersah, wurde er wenig später auf sie aufmerksam. Kurz runzelte er die Stirn, hob dann die Augenbrauen. Dann sagte er etwas zu den jungen Männern und kam zu ihr.
»Estella?«, fragte er. »Du bist doch Estella, Marlenas Freundin, oder?«
Er erinnert sich an meinen Namen, dachte sie, das ist schon einmal gut. Alles andere würde sich fügen.
Er führte sie zu einem Brett, das über zwei kleine Holzfässer
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