Die Lagune Der Flamingos
hatte keine Ahnung, was an diesem Abend auf sie zukommen sollte.
»Julius!«
Lachend versuchte Anna ihren Mann abzuwehren, während der sie in eine dämmrige Ecke führte und ihren Nacken mit kleinen Küssen bedeckte. Am liebsten hätte sie ihn noch tiefer in diese Ecke gezogen, hätte ihn selbst mit tausend Küssen bedeckt, festgehalten und nie mehr losgelassen. Ihre Liebe war stark. Es war diese Liebe, die ihr immer wieder von Neuem Kraft gab.
»Ich würde sagen, das ist wieder einmal eine gelungene Feier.«
»Wir müssen uns bei Maria bedanken«, sagte Anna und schaffte es endlich, sich zu ihrem Mann umzudrehen. »Das Buffet ist wieder einmal himmlisch.«
»Ja.« Mit einem Nicken deutete Julius auf das Ende des Flurs.
»Die Kleine schläft?«
Anna nickte. »Leonora schlummert schon seit Stunden tief und fest.«
»Und Marlena«, fuhr Julius fort, »weißt du, wo sie ist? Ich kann sie nirgendwo entdecken.«
Anna schüttelte den Kopf. Offenbar wollte sich ihre Tochter wieder einmal den vermeintlichen Heiratskandidaten entziehen. Dabei würde ich sie doch nie zu etwas zwingen, dachte Anna. Auf unseren Festen kann sie ganz ungezwungen junge Männer kennenlernen, was ist schon dabei?
»Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit der Champagner ausgeschenkt wurde. Bestimmt hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen.«
»Nein, da ist sie nicht. Das Mädchen wird doch nicht fortgelaufen sein?«
Vielleicht hatte Julius scherzen wollen, doch es lag Beunruhigung in seiner Stimme. Sie beide wussten, zu welchem Verhalten Marlena neuerdings fähig war. Mit dem Älterwerden war sie nicht mehr so leicht dazu zu bringen, sich an Regeln zu halten. Die junge Frau hatte vielmehr eigene Pläne. Anna gab einem der Dienstmädchen den Auftrag, diskret nach ihrer Tochter zu suchen.
Bald hatten sie Gewissheit: Marlena war weder im Haus noch im Garten zu finden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Irgendwann redete Marlena einfach weiter, ohne Unterlass, um Elend und Schrecken um sich herum nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Es war einfach zu schlimm. Das hatte sie sich niemals vorstellen können, niemals, niemals, niemals: Männer, Frauen und Kinder in Lumpen, die ihre Blöße kaum bedeckten, teilweise dünn wie Skelette, ausgemergelt vor Hunger, manche stinkend, als verfaulten sie am lebendigen Leib, sodass Marlena sich übergeben wollte. Dann wieder Mädchen in schrillbunter Kleidung, halbe Kinder noch, die ihre Körper darboten. Sie hatte schon von den berüchtigten arrabales , den Vorstädten, sprechen hören, wo die Prostitution besonders florierte, doch davon zu hören, war nichts im Vergleich dazu, das Ganze zu sehen, zu riechen, zu schmecken. Sie krallte die Finger fester um Johns Arm und merkte es kaum.
»Warum bist du eigentlich hierhergekommen?«, fragte sie, um nicht mit dem Reden aufhören zu müssen, obwohl es ihr ungehörig vorkam, ihn einfach so auszufragen. »Warum bist du in Argentinien?«
»Wie meinst du das?« John runzelte die Stirn.
»Ich will wissen, was dich, John Hofer, veranlasst hat, nach Buenos Aires zu kommen.«
»Nun, eigentlich heiße ich Johann Hofer.« John beschleunigte mit einem Mal seine Schritte. Marlena nickte, während sie sich mühte, mit ihm Schritt zu halten. »Und ich bin Demokrat.«
»Demokrat?«
»Ein politischer Flüchtling, einer, der für die Demokratie einsteht und gegen die Monarchie ist. Ein Sozialist, ein Revolutionär.«
Von Demokratie hatte Marlena schon einmal gehört, das war eine Regierungsform im alten Griechenland gewesen, hatte ihr Julius erzählt, nach dem sie sich beschwert hatte, dass man sie in der Schule nichts über Politik lehrte. Viel mehr wusste sie allerdings nicht.
»Und was wollen die Demokraten?«
John blieb abrupt stehen. Er kämpfte ganz offensichtlich gegen ein Grinsen an, das sich auf seine Gesichtszüge stehlen wollte.
»Na ja, zuerst einmal kann ein Demokrat sagen, was er will.« Er machte eine Bewegung mit der Hand. »Und darüber hinaus will er, dass es so etwas hier nicht gibt.« John machte eine neuerliche Handbewegung, die die nächste und die weitere Umgebung einschloss.
Marlena nickte.
Er schaute sie ernst an. »Wirst du einen Artikel schreiben, über das, was du gesehen hast?«, fragte er sie dann unvermittelt.
Sie nickte wieder.
»Gut«, sagte er und klopfte ihr auf die Schulter, »schreib du den Artikel, ich sorge dafür, dass er veröffentlicht wird.«
»Würdest du … würdest du das wirklich tun?«, fragte sie mit weit
Weitere Kostenlose Bücher