Die Lagune Der Flamingos
durchgeschrieben«, fügte sie dann entschuldigend hinzu.
Er lachte leise, während er sich am Hinterkopf kratzte. »Der frühe Vogel … ach, verdammt … Ich glaube, das letzte Glas Rum war schlecht.«
Sie schaute ihn fragend an.
»Ich war mit Freunden unterwegs, Marlena.«
Sie nickte. »Der Artikel ist fertig«, sagte sie dann, kaum hörbar.
John umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen.
»Stimmt es, dass du meinetwegen Hausarrest hattest?«
Marlena errötete, befreite sich dann ruckartig. Er konnte sehen, dass sie sich auf die Lippen biss.
»Wer hat dir das erzählt?«, fragte sie nach neuerlichem Schweigen rau.
»Jenny.«
»Aha.«
Sie nickte langsam. Irgendetwas in ihrem Ausdruck sagte ihm, dass ihr diese Antwort etwas besser behagte als die, die sie offenbar erwartet hatte.
»Na ja«, sie hob die Schultern und versuchte sich an einem Lächeln, »ich habe meinen Eltern wohl einen ziemlichen Schrecken eingejagt, einfach so zu verschwinden, ohne Bescheid zu sagen. Das habe ich eigentlich auch noch nie gemacht.«
»Aber das wirst du auch in Zukunft tun müssen, wenn du deinen Weg gehen willst, Marlena.«
Auf seine Worte hin schaute sie ihn prüfend an. »Liest du den Artikel?«, fragte sie dann leise, »du bist …«, sie stockte einen Moment, wieder verlegen, »… du bist der Erste.«
Sie setzten sich nebeneinander auf Johns Bett, Marlenas Tasche wie eine kleine Mauer zwischen sich. John bemerkte, dass ihn die junge Frau während des Lesens nicht aus den Augen ließ. Endlich schob er die eng beschriebenen Blätter zusammen und legte sie vor sich auf seine Knie.
»Das ist zu lang.«
Die Enttäuschung, die Marlenas Gesicht widerspiegelte, war unübersehbar. John beeilte sich, rasch weiterzusprechen.
»Aber es ist dennoch gut. Du schaffst es, deine Leser zu packen.«
Jetzt zeigte sich wieder Hoffnung auf dem Gesicht der jungen Frau. Ihre Lippen bewegten sich, bevor sie etwas sagte, als getraue sie sich nicht, das Folgende auszusprechen.
»Meinst du, es könnte veröffentlicht werden?« Ängstlich blickte sie ihn an.
Er lächelte ermutigend. »Mit ein paar kleinen Änderungen hier und da, natürlich, warum nicht?«
Etwas wie Dankbarkeit stahl sich in Marlenas Augen. Ihr ganzes Gesicht leuchtete jetzt auf. Plötzlich musste John seinen Blick von ihr abwenden.
Habe ich nicht schon einmal viel zu viel versprochen?
Er schüttelte den Kopf, und Marlena starrte ihn verwirrt an.
»Was ist?«, fragte sie, die Augen groß und fragend, mit einem Mal eine leichte Röte auf den Wangen.
Sie ist auf dem Weg, sich in dich zu verlieben, fuhr es John durch den Kopf, das darfst du nicht zulassen. Es ist etwas Wunderschönes, geliebt zu werden, trotzdem muss ich vorsichtig sein, ich darf sie nicht verletzen.
»Was ist?«, wiederholte Marlena, nun eindringlicher.
»Nichts«, John musste sich zwingen zu lächeln, »ich habe an die alte Heimat gedacht.«
»Vermisst du sie?«
»In gewisser Weise.« Er seufzte. »Komm, lass uns noch einmal den Artikel durchsehen.«
Eine halbe Stunde später hatten sie Marlenas Artikel durchgesprochen, Schwachstellen benannt, Änderungen geklärt. Nachdem sie fast unablässig geredet hatten, schwiegen sie jetzt wieder. Dann stand John auf, zog den Poncho aus und den Rock über.
Ich sollte sie jetzt fortschicken, sagte die Stimme in seinem Kopf. Doch es fiel ihm so schwer. Wie lange hatte ihn niemand mehr bewundert, wie lange hatten ihm alle, die ihn kannten, vorgeworfen, was er getan hatte? Noch nicht einmal er selbst hatte sich verzeihen können. Ein Moment der Feigheit nur, eine falsche Entscheidung, und das Leben war nie wieder wie zuvor.
Er wandte sich Marlena zu und lächelte sie an. »Willst du noch mehr sehen von Buenos Aires’ dunkler Seite?«
Marlena zögerte, dann nickte sie entschlossen.
»Gut«, sagte er, »heute Abend.«
Marlena brachte den Tag nur mit Mühe hinter sich. Zu Hause gab sie sich fügsam, erledigte alle ihr gestellten Aufgaben, ohne zu murren, zog sich kurz nach dem Abendessen zurück, um sich angeblich mit den Vorbereitungen zum Kaisergeburtstag zu beschäftigen, der jedes Jahr Ende Januar groß in der Schule gefeiert wurde. Allerdings konnte sie sich nicht konzentrieren und arbeitete stattdessen fahrig an einem neuen Artikel. Noch nicht einmal Estella, die wieder aus Tucumán zurück war, konnte sie vom Schreibtisch weglocken. Murrend schloss die Freundin sich schließlich Julius und Anna im Salon an. Als es im Haus endlich ruhig wurde, schlich
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