Die Lagune Der Flamingos
gelegt worden war und wohl als Bank diente.
»Was führt dich hierher?«
Er duzt dich einfach, dachte Estella irritiert. Das war ungewohnt, aber sie beschloss, nichts zu sagen.
»Was haben Sie diesen Burschen erzählt, Señor Hofer?«
»John.«
»John«, wiederholte Estella, sehr zufrieden darüber, wie sich die Situation entwickelte. Er grinste.
»Ich habe ihnen von ihren Rechten erzählt.«
Estella nickte. Auch wenn ihr solche Themen aus dem Haus ihrer Eltern nicht unbekannt waren, hatte sie sich nie näher damit beschäftigt oder sich dafür interessiert.
Nun ja, sie würde ihm zuhören – und wenn es nur dazu diente, ihn für sich zu gewinnen.
Vorerst achtete Estella peinlich darauf, nie zu jenen Zeiten bei John aufzutauchen, zu denen auch Marlena ihn besuchte. Wenn die Zeit reif war, würde sie es tun. Sie wusste nicht, ob er von ihr erzählte, vermutete jedoch, dass er es nicht tat.
Es vergingen drei Wochen, in denen sie mehr voneinander erfahren und viel miteinander gelacht hatten, bis Estella ihren Besuch erstmals auf einen Zeitpunkt schob, an dem auch Marlena John aufsuchen wollte. Während sie mit ihm auf der behelfsmäßigen Bank saß, sorgsamer zurechtgemacht als sonst, sah sie aus den Augenwinkeln, wie sich Marlena näherte. Erst im letzten Moment drehte sie den Kopf.
»Marlena, du hier? Heute?«
Marlena hob die Augenbrauen. »Ich komme immer am selben Tag.«
Estella bemerkte, wie ihre Freundin versuchte, einen Blick mit John zu wechseln. »Was macht sie hier?«, fragte sie ihn.
»Ich habe John besucht. Ist das verboten?«, antwortete Estella an Johns Stelle.
»Ja«, mischte der sich nun ein. »Sie hat mich tatsächlich ab und an besucht in letzter Zeit.«
Estella beobachtete, wie Marlena zuerst weiß wie eine gekalkte Wand wurde, bevor sich Röte auf ihren Wangen ausbreitete. Ganz offenbar war sie tatsächlich zornig. Estella fand, dass sie mit ihren Zöpfen und der Schulkleidung in diesem Moment aussah wie ein kleines Mädchen.
»Gut«, entgegnete Marlena schließlich mit vor Ärger bebender Stimme. »Dann gehe ich wohl besser wieder.«
»He!«
John versuchte sie am Arm festzuhalten, war jedoch nicht schnell genug. Erst nur mit raschen Schritten, bald rennend, entfernte Marlena sich von ihnen. Nur mit Mühe konnte Estella ihre Genugtuung verbergen.
Es dauerte einige Tage, bis John Marlena wiedersah. Estella besuchte ihn dagegen weiter regelmäßig. Er sagte nichts, wenn er auch Verdacht geschöpft hatte. Der Gedanke, dass sich zwei junge Mädchen für ihn interessierten, schmeichelte ihm, wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war.
Als Marlena ihn endlich erneut aufsuchte, merkte John, wie sehr er sie vermisst hatte. Es war beinahe ein ungewohntes Gefühl.
»Marlena«, sagte er aufrichtig erfreut, »schön, dich wiederzusehen.«
Eine Zornesfalte stand zwischen ihren Augenbrauen, und sie schien sich nach seiner Begrüßung noch zu vertiefen. Auch heute trug Marlena ihre weiße Schulkleidung. Das Haar hatte sie allerdings zu einem Seitenzopf geflochten, der vorn über ihrer Schulter hing, was sie nicht ganz so kleinmädchenhaft aussehen ließ.
Sie ist schön, fuhr es John durch den Kopf, nicht so offensichtlich schön wie Estella, aber sie hat eine bezaubernde Art. Diese kleine Falte zwischen den Augen, wenn sie sich auf etwas konzentriert, wenn sie an einem Text arbeitet … Ich möchte das gewiss nicht missen.
»Komm, setz dich.«
Zuerst dachte er, sie würde sich weigern, dann nahm sie doch schweigend neben ihm Platz. Es dauerte noch eine Weile, bis sie sprach.
»Estella«, sagte sie dann, »Estella ist sehr schön.«
Er nickte, was sie mit einem Ausdruck quittierte, der zwischen Verunsicherung und Beleidigtsein schwankte. Bevor sie aufspringen konnte, schaffte er es gerade noch, sie am Arm festzuhalten.
»Bleib, Marlena. Ja, Estella ist hübsch, ganz objektiv, aber du bist es, die mir wichtig ist.«
Jetzt musterte sie ihn aufmerksam, sagte aber nichts. Er sprach weiter, offenbar hatte er sie noch nicht überzeugt.
»Ach«, John machte eine wegwerfende Bewegung, »wie soll ich es sagen … Estella war schon als Kind überaus schön, nicht wahr? Wie ein kleiner schillernder Kolibri, der mit seinen Flügelchen fröhlich und unbedarft die Luft durchschwirrt. Allerdings genügt das eben nicht. Die Mehrzahl der argentinischen Väter und Mütter füllt leider auch die Köpfchen ihrer Kinder mit Dingen, die mehr für ein Vogelhirn als für den menschlichen Verstand taugen. Und
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