Die Lagune Der Flamingos
Schokolade.
»Estella«, begann Marlena dann vorsichtig. »John hat gesagt, dass er sich für mich entschieden hat.« Sie hielt inne, um Estella Gelegenheit zu geben zu reagieren, doch sie musste weitersprechen, weil Estella gar nichts sagte. »Wir werden heiraten«, fügte sie hinzu, bevor sie sich versehen hatte.
Das hatten sie zwar noch nicht ausdrücklich besprochen, aber Marlena war sicher, dass es bald so weit sein würde.
Anstatt etwas zu sagen, lächelte Estella nur spöttisch. So sehr sich Marlena auch mühte, hinter die Fassade zu gucken, so meisterhaft verbarg ihr Gegenüber, was es in diesem Augenblick wirklich dachte.
»Weiß Anna davon?«, fragte Estella nach einer Weile. Der Spott hing auch jedem ihrer Worte an.
»Wir sagen es ihr, sobald es so weit ist«, murmelte Marlena bereits unsicherer.
Estella stand unvermittelt auf. Plötzlich hatte Marlena eine Ahnung davon, dass ihre Worte Estella doch schwerer trafen, als sie vermutet hatte.
»Ich glaube, ich lege mich etwas hin. Ich bin müde«, sagte sie.
»Estella!«
»Ich bin müde, Marlena.«
Zum Abendessen ließ sich Estella entschuldigen. Sie kam nur kurz an den Tisch, um zu erklären, dass sie wünsche, demnächst ins Internat umzuziehen.
Anna, die sich eben darauf konzentrierte, sich Gemüse und Kartoffeln aufzugeben, hielt inne. »Aber warum denn?«
Sie wechselte einen Blick mit Julius, der nun Marlena fragend ansah. Diese starrte reglos auf ihren Teller.
»Ach«, Estella lächelte, »ich möchte mich im letzten Jahr stärker auf die Schule konzentrieren. Man beschuldigt uns Argentinierinnen ja gerne eines zu flatterhaften Wesens«, jetzt spürte Marlena Estellas Blick auf sich, »ich möchte zeigen, dass dem nicht so ist.«
Julius räusperte sich.
»Das ist sehr löblich, aber deshalb musst du unser Haus doch nicht verlassen.«
»Doch«, Estella lächelte verbindlich in die Runde, »es gibt hier einfach zu viele Ablenkungen.«
Wenn Anna und Julius auch verblüfft waren, so drangen sie doch nicht tiefer in die junge Frau. Schweigend aßen sie weiter.
Marlena aber war der Appetit gründlich vergangen.
Anna spürte Julius’ Hand, die ihr sanft das Haar aus der Stirn strich. Oben an der Schlafzimmerdecke tanzten Licht und Schatten miteinander. Nach einem schweigsamen Abendessen hatten sie im Patio noch etwas getrunken und versucht, die laue Spätsommernacht zu genießen, waren dann aber doch früher als sonst ins Bett gegangen.
»Was meinst du?«, fragte Julius nach einer Weile, er hielt seine Hand jetzt ganz still. »Was ist zwischen den beiden vorgefallen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Anna und stieß hörbar Luft aus. »Sie haben sich wegen irgendetwas gestritten.«
»Das muss schon länger her sein«, sagte Julius. »Sie gehen schon seit geraumer Zeit nicht mehr so unbeschwert miteinander um.«
Anna überlegte.
»Ja, du hast Recht«, sagte sie dann.
Vielleicht solltest du dich etwas weniger um das Fuhrgeschäft kümmern, mahnte eine Stimme in ihrem Kopf, vielleicht solltest du nicht mehr alles selbst in der Hand haben müssen …
Doch sie verwarf die an ihrem Gewissen nagenden Gedanken sofort wieder. Das Fuhrgeschäft, die Arbeit, das war ihr Ein und Alles. Sie würde das nicht aufgeben. Sie seufzte.
»Wem soll das auch etwas bringen?«, murmelte sie.
»Hast du etwas gesagt?«, fragte da Julius mit schläfriger Stimme. »Nein«, gab Anna zurück. »Es ist alles in Ordnung.«
Wenig später wurden Julius’ Atemzüge gleichmäßiger. Anna jedoch fand in dieser Nacht noch lange keinen Schlaf.
Als Estella nach dem folgenden Wochenende ins Schulinternat umzog, fuhr ihr die Frage durch den Kopf, ob ihre Entscheidung wohl die richtige gewesen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben schlief sie von Familie und Freunden getrennt. Ihre Bettnachbarin hieß Philomena, ein schüchternes aschblondes Mädchen, das Estella auf den ersten Blick vollkommen uninteressant erschien.
Ach Gott, ich werde mich zu Tode langweilen!
Jetzt saßen sie im Speiseraum. Zum ersten Mal nahm Estella ein Abendessen unter den Argusaugen von Fräulein Lewandowsky ein, die keine Gelegenheit ausließ, jeden Bissen und jede ihrer Bewegungen mit knappen, aber umso spitzeren Bemerkungen zu untermalen. Estella war bald so verunsichert, dass sie ihren Trinkbecher umstieß und den Teller ihrer Sitznachbarin zu Boden riss.
»Isst man so in der Wildnis?«, ließ sich da Fräulein Lewandowsky hören.
Einige Sitzplätze weiter lachte Alma, Isoldes beste Freundin,
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