Die Lagune Der Flamingos
wie ein kleines Vögelchen. Er wandte sich erneut den Papieren zu. Dies hier waren wichtige Geschäfte. Geschäfte, die er mit seinem Schwiegervater gemeinsam angestrengt hatte und bei denen es um den Eisenbahnbau und viel Land ging.
Lionel Cuthbert hatte es ihm auf einer Karte gezeigt. Siedlungsgebiete streckten ihre Finger mittlerweile entlang der Eisenbahnlinien der südlichen, westlichen und nördlichen Eisenbahnstrecken über Buenos Aires hinaus aus. Maisies Vater sagte, dass damit ebenso viel Geld zu verdienen sei wie mit der Landspekulation, dass manches sogar Hand in Hand ging. Gemeinsam hatten sie also große Landstrecken in der Pampa erstanden. Sie hatten mehr Land gekauft, als dem Einzelnen zugestanden wurde, doch wer wollte das kontrollieren? Man musste nur ein wenig Geld an der richtigen Stelle fließen lassen, dann wurden sämtliche Augen zugedrückt. Der Staat brauchte Geld, um seine Kriege zu finanzieren. Der Staat fragte letztlich nicht danach, wo das Geld herkam. Seit den Kriegen um die Unabhängigkeit hatte es mit den Kämpfen in diesem Land niemals ganz aufgehört.
Es war wieder einmal Maisies Vater gewesen, der ihn auf die Idee gebracht hatte, Agenten und falsche Namen bei den Landauktionen zu benutzen. Damit hatten sie die Vorgabe umgehen können, die den Kauf pro Person limitieren sollte. Zuerst war Lorenz erstaunt gewesen, aber Lionel Cuthbert hatte ihm versichert, dass sich der, der etwas erreichen wollte, nicht an Regeln halten konnte. Regeln waren für Schwächlinge da.
Lorenz lenkte den Blick wieder auf die Papiere in seiner Hand. Dann entschied er sich, Maisie zu rufen. Sie hatte ihm schon oft vorgelesen. Sie hatte ihn auch schon beratschlagt. Sie war seine Frau. Wem sollte er sonst trauen, wenn nicht ihr?
Sechzehntes Kapitel
Bei Marlena zu Hause, wo Estella und sie über die letzten Schuljahre Freud und Leid geteilt hatten, lief das Leben weiter, als hätte sich nichts geändert. Anna arbeitete in ihrem Unternehmen und investierte gemeinsam mit Julius in den Eisenbahnbau und Land in der Pampa. Julius arbeitete in seinem Export-Import-Geschäft. Ihre kleine dreieinhalbjährige Schwester ging Marlena auf die Nerven. Aus dem glücklichen, properen Kleinkind, das alle mit seiner guten Laune angesteckt hatte, war – das fand jedenfalls Marlena – ein selbstsüchtiges Wesen geworden. Eben quengelte Leonora wieder einmal an der Hand ihrer Kinderfrau um Bonbons.
Ach Gott, ging es Marlena im nächsten Moment durch den Kopf, meine kleine Schwester ist sicher mein geringstes Problem. Sie hatte endlich beschlossen, sich ein Herz zu fassen und mit Estella zu reden, aber der Gedanke an das Gespräch beunruhigte sie sehr.
Dabei sind wir doch einmal so gute Freundinnen gewesen. Wir haben uns alles sagen können.
Eigentlich hätte Marlena sich sogar gern mit ihrer Mutter beraten, aber die schien gar nichts zu merken von den Rissen, die im feinen Beziehungsgeflecht zwischen den Freundinnen entstanden waren. Anna hatte nur Augen für ihr Geschäft.
Marlena seufzte. Hätte ich gedacht, dass Estella und ich uns nach jenen gemeinsamen Tagen in der Gefangenschaft einmal so auseinanderleben?
Wieder einmal, sie wusste nicht zum wievielten Mal nun, durchquerte sie den ersten Patio, dann den zweiten, um im dritten angelangt unverrichteter Dinge umzukehren. Wo blieb Estella heute nur?
Fast eineinhalb Stunden nach Schulschluss tauchte Estella endlich auf. Marlena stürzte auf sie zu.
»Wo warst du denn?«
»In der Schule.«
»So lange?«
»Ich habe noch eine Aufgabe mit Fräulein Brand besprochen. Sie vermisst übrigens solche Gespräche mit dir. Sie sagt, wie hat sie das noch genannt, sie habe den Eindruck, die Schule stehe nicht mehr an erster Stelle für dich.«
»Natürlich steht sie …«
Marlena brach ab. Estella und Fräulein Brand hatten Recht. In den letzten Wochen hatte wirklich anderes an erster Stelle gestanden. Sie hatte sich sogar mit Noten zufriedengegeben, die sie früher beschämt hätten.
»Wenn ihr meint«, antwortete sie also. Dann hakte sie sich bei der Freundin unter. Auch das fühlte sich falsch an wie so vieles in letzter Zeit, aber Marlena ließ nicht los. »Komm, im Patio stehen Tee, Kuchen und Schokolade. Wir müssen reden.«
Wenig später saßen sie einander in den Korbsesseln gegenüber. Estella hatte einen Fuß an Marlenas Sitzfläche abgestützt. Es könnte sein wie immer, dachte Marlena, aber etwas stimmt nicht. Schweigend leerten sie die erste Tasse
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