Die Lagune Der Flamingos
Heidelberg oder in Cambridge zu ergänzen.
Lorenz’ neue Familie war weitläufig, um nicht zu sagen riesig. Großeltern, unverheiratete Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, sogar verheiratete Kinder gehörten dazu. Alle zusammen brachten den Haushalt an manchen Tagen auf über zwanzig Mitglieder.
Maisies Vater musste deshalb auch nicht außerhalb suchen, um Angestellte zu finden. Sein weit verzweigtes Geschäft war ein Familienunternehmen, mit eiserner Hand geleitet. Anders als bei anderen großen Familien wurde das Vermögen durch eine strenge Übereinkunft zusammengehalten. Niemand opponierte dagegen, jeder wusste um den Vorteil eines solchen Arrangements.
»Ich bin froh, nur zwei Kinder zu haben«, hatte Lionel Cuthbert einmal zu Lorenz gesagt. »Dass man seinen Besitz nach dem Tod per Gesetz gleichermaßen zwischen seinen Nachkommen aufteilen muss, schwächt das ökonomische Herz einer Familie. Daran kann niemandem gelegen sein.«
Aller Strenge und geschäftlicher Härte zum Trotz waren die Cuthberts insgesamt betrachtet gut aussehende Menschen mit einem einnehmenden Wesen, gebildet und kosmopolitisch. Ihr Reichtum war enorm. Lorenz hatte nicht viel von Maisie erfahren, aber eines doch, nämlich dass sich die meisten keine Vorstellung davon machten, wie wohlhabend die Cuthberts waren.
Das Stadthaus der Familie war eine dreistöckige Villa, jedoch weniger überladen mit Möbeln und anderen Kostbarkeiten und mit Personal als andere, die Lorenz mittlerweile gesehen hatte. Hinzu kamen Estancias im fruchtbarsten Teil der Pampa und ein elegantes Haus inmitten eines Gartens im Norden von Buenos Aires, auf dem Weg nach Tigre gelegen.
Auf den Feiern der Cuthbert-Familie traf man ganz Buenos Aires, von der alten Oberschicht, die immer noch stolz auf ihren kolonialen Hintergrund war, zu den nouveaux riches – Großgrundbesitzer, Finanziers, Politiker und Händler, die es mit der landwirtschaftlichen Ausbeutung der Pampa zu etwas gebracht hatten. Bei manchen kompensierte Reichtum die mangelnde Tradition. Für die alte, aus der kolonialen Tradition stammende Oberschicht mochte der irische oder baskische Schaffarmer oder der italienische Kleinbauer, der ein Vermögen in der Pampa gemacht hatte, noch nicht ganz annehmbar sein, doch seine Kinder, gut ausgebildet und weltklug, bewegten sich bereits ohne Anstrengung in den höchsten Kreisen.
Buenos Aires befand sich im steten Wandel. Die Elite, zu der auch die Cuthberts gehörten, dominierte immer noch vor allem den Großhandel: den Import feiner europäischer Waren, den Verkauf von Maultieren für die bolivianischen Minen, den Export von Stiefeln und Sandalen für indianische Minenarbeiter, die Verschiffung von landwirtschaftlichen Produkten und mineralischen Rohstoffen.
Und eines Tages, dachte Lorenz, wird ein Teil davon dir gehören. Es wird ein kleiner Teil sein, aber er wird bei Weitem groß genug sein, das Leben zu führen, von dem du immer geträumt hast.
Früher, als er noch jünger und unüberlegter gewesen war, hätte er diesen Zeitpunkt gewiss nicht abwarten können. Dann hätte er sich jetzt schon einen Anteil geschnappt und wohl oder übel auf den Rest verzichtet, weil er danach hätte fliehen müssen. Heute jedoch hatte er Zeit.
»Señor?«
Sein Sekretär näherte sich Lorenz vorsichtig von der Seite. Die Papiere in seiner Hand raschelten. Lorenz seufzte innerlich tief. Er hasste Schreibarbeit, aber sie musste getan werden. Er war ein Geschäftsmann, kein Bandit mehr. Dass er nun so viel Schreibarbeit hatte, bedauerte er. Die Dinge ließen sich nicht mehr auf einfache Art regeln, mit Messer oder Pistole. Er runzelte die Stirn und blickte den jungen Mann düster an. Mit Genugtuung bemerkte er, dass der den Kopf senkte.
»Ja?«
»Ich benötige eine Unterschrift, Señor Schmid.«
Der Sekretär hielt Lorenz die Papiere entgegen. Lorenz begann zu lesen. Er las langsam. Er hatte es spät gelernt und dann lange Jahre nicht getan. Ihm war, als sei ihm der Sinn der Buchstaben in jener Zeit abhandengekommen. Er musste sich mühsam an ihre Bedeutung erinnern. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, wedelte dann mit der Hand.
»Lassen Sie mich kurz allein. Ich rufe Sie, wenn ich Sie wieder brauche … Wie heißen Sie noch?«
»Diego Montoyo, Señor.«
Der junge Mann zog sich ohne ein Wort und leise wie ein Schatten zurück. Lorenz schaute für einen Moment wieder nach draußen. Maisie beschäftigte sich nun mit ihren Singvögeln, gurrte und zwitscherte selbst
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