Die Lagune Der Flamingos
gemacht. Unablässig war er durch Buenos Aires gelaufen. Er hatte nicht auf sich geachtet. Er hatte sich nur notdürftig gewaschen und kaum etwas gegessen. Seit Olga fort war, verspürte er ohnehin keinen Hunger mehr. Außerdem wollte er nicht die ganzen Ersparnisse ausgeben. Von ihrem Ersparten hatten Olga und er doch ein neues Leben beginnen wollen. Anfangs hatte er in irgendwelchen Verschlägen geschlafen, dann, als deutlich geworden war, dass die Suche länger dauern würde, hatte er sich eine Unterkunft in einem der sogenannten conventillos gesucht.
Irgendwann nachts hatte er davon geträumt, Olga ermahne ihn, nicht weiter alles Geld auszugeben. Daraufhin hatte er sich Arbeit gesucht. Aber auch dann hatte er die Suche nicht aufgegeben. Diese Suche war das Einzige, was nach dem Verschwinden seiner geliebten Frau noch Sinn für ihn hatte. Manchmal meinte er, Olga gefunden zu haben, doch bislang hatte er sich jedes Mal getäuscht. Drei Jahre war sie nun verschwunden, doch sie war ständig in seinen Gedanken, besonders hier in La Boca, wo alles in allen Sprachen Europas durcheinanderschrie. Angst machte es ihm, dass Olgas Gestalt mittlerweile manchmal vor seinen Augen verschwamm. Anfangs hatte er sie immer so klar gesehen, als stünde sie vor ihm.
Inzwischen war La Boca zu so etwas wie seiner Heimat geworden. Es war ein schreckliches Zuhause, doch das Richtige für ihn, der sich doch nie wieder heimisch fühlen wollte. Der Geruch von den Häuten, vom Harz, von faulem Wasser an diesem Ort war eigentlich nicht zu beschreiben, ebenso wenig wie der Staub im Sommer und der Schmutz im Winter. Das Leben, die Geschäftigkeit und das Getöse in La Boca waren zu jeder Jahreszeit unbeschreiblich. Sicherlich mehr als hunderttausend Menschen bevölkerten täglich das Ufer und seine Gasthäuser. Sie eilten zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen durch die Straßen zwischen den Waggons der Eisenbahn, den zahlreichen Linien der Pferdebahnen und den langen Reihen mit mehr als zehn Ochsen bespannter carretas , wie die Karren hießen, hindurch.
Mit einem Mal spürte Arthur, dass ihn jemand beobachtete.
»Wie heißen Sie?«, fragte im nächsten Moment schon eine männliche Stimme.
»Wen geht’s was an?«
Die Suche nach Olga hatte ihn zu einem Einzelgänger gemacht. Arthur legte keinen Wert auf Gespräche. Lange hatte er nur das Nötigste gesprochen.
»Eduard Brunner von der Estancia La Dulce.«
Arthur hob den Kopf. »Arthur Weißmüller aus La Boca.«
»Sie sind ein guter Arbeiter.«
Arthur schwieg.
»Ich schaue mir die Leute gern vorher an, die ich einstelle«, fuhr Eduard fort. »Ich habe Sie jetzt eine Weile beobachtet.«
Arthur spuckte aus. Er hatte gelernt, niemandem zu vertrauen. »Hab Sie hier vorher nie gesehen.«
»Ich wohne außerhalb. La Dulce liegt, von Buenos Aires aus gesehen, in Richtung Córdoba.«
»Sind Sie Deutscher?«
»Vielleicht. Früher einmal in jedem Fall.«
Eduard schaute sich um. Hier hatte er auch einmal gearbeitet, ganz zu Anfang, als er in dieses Land gekommen war. Irgendwann zu dieser Zeit war auch La Boca zum Leben erwacht, noch mehr, als der internationale Handel mit Fleischprodukten in Schwung gekommen war.
»Für die nächsten Monate brauche ich gute Arbeiter draußen«, sagte er dann. »Ich bezahle gut.«
Arthur hob den Kopf und musterte den Mann. Gut gekleidet, ein kleines Bäuchlein unter der feinen Weste. Er konnte später nicht sagen, was ihn dazu brachte, das Folgende zu sagen. Olga und er hatten immer davon geträumt, und wenn sie eines Tages wiederkam – daran wollte er nicht zweifeln –, dann würde er sie zu ihrer eigenen Estancia führen.
»Ich will Land pachten«, sagte er also, »ich will meinen eigenen Hof aufbauen. Geben Sie mir die Gelegenheit, und ich komme mit.«
Er wartete gespannt auf eine Reaktion. Jetzt würde ihn dieser Brunner sicher zur Hölle schicken, aber der zuckte nur die Achseln.
»Darüber«, sagte er, »lässt sich reden.«
Als Eduard sich an diesem Abend in sein Zimmer im Haus seiner Schwester in Belgrano zurückzog, war er in seltsam heiter-betrübter Stimmung. Bald würde er für längere Zeit nach La Dulce zurückkehren, was ihn freute. Er würde aber auch seine Schwester zurücklassen, was ihn traurig stimmte. Natürlich brauchte Anna seine Hilfe nicht mehr – sie lebte längst erfolgreich ihr eigenes Leben –, doch sie waren sich immer nahe gewesen. Er beschloss, nicht mehr so viel Zeit vergehen zu lassen bis zum nächsten Wiedersehen. Er hatte
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