Die Lagune Der Flamingos
den rancho noch einige Monate bewirtschaftet und dann an die verdammten Dalbergs verkaufen müssen. Sie hatten ihm keine Wahl gelassen. Das würde auch ihnen noch einmal leidtun.
Philipp beugte sich zum Spiegel und betastete die wulstige Narbe. Sie alle, die sie sein Leben zerstört hatten, würden büßen müssen. Er würde sie suchen, finden und erbarmungslos zur Strecke bringen.
Mit Annelie und Mina wollte er beginnen.
Vierter Teil
Una vida buena –
Ein schönes Leben
La Dulce, Esperanza, New York,
Buenos Aires Tres Lomas, Rosario
1881 bis 1882
Erstes Kapitel
Weil Mina sich vor dem fürchtete, was sie womöglich sehen würde, verkroch sie sich irgendwann in einer Ecke der Kutsche und wagte keinen Blick mehr nach draußen. Sogar als sie sich endlich unwiderruflich ihrem Ziel näherten, als Eduard Brunner den Wagen anhielt und sie nach draußen bat, wollte sie sich noch weigern.
»Von hier aus kann man La Dulce schon sehen«, rief er mit jenem glücklichen Unterton, den sie immer an ihm bemerkte, wenn er von der Estancia sprach.
Mina starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen.
Ob Mama Frank inzwischen getroffen hat?
» Wollen Sie nicht aussteigen?« Eduard sah durch das kleine Fenster in die Kutsche hinein.
Mina schüttelte den Kopf. Sie konnte sich einfach nicht bewegen. Er zog sich zurück, wenig später hörte sie von draußen dumpf Eduards Stimme. Er sang.
Es ist albern, hier drinnen sitzen zu bleiben, schalt Mina sich und griff mit zitternden Fingern nach dem Wagenverschlag. Kaum wollte es ihr gelingen, die Tür aufzustoßen. Als sie aus dem Wagen kletterte, wäre sie fast gestolpert und zu Boden gestürzt. Eduard fing sie auf.
Mina schossen Tränen in die Augen. Aber ich liebe ihn doch nicht. Was soll ich nur tun? Ich liebe ihn nicht.
Vor sich meinte sie plötzlich die ernsten Augen ihrer Mutter zu sehen. Mach jetzt keinen Fehler, stand in ihnen geschrieben, mach jetzt ja keinen Fehler.
Zwei Tage später traf auch Annelie auf La Dulce ein. Sie hätte ihrer Tochter nichts sagen müssen. Sie war allein, das genügte Mina als Antwort.
Annelie streckte eine Hand aus und streichelte ihrer Tochter die Wange. »Er war nicht da, Mina, so, wie ich vermutet hatte.«
Mina schwieg einen Moment lang. »Ich weiß. Vielleicht kommt er nächstes Jahr«, sagte sie dann.
Erst schien Annelie etwas sagen zu wollen, dann zögerte sie. Nach einer Weile antwortete sie: »Ja, vielleicht tut er das. Wir werden sehen, nicht wahr? Aber bis dahin ist ja noch ein wenig Zeit.«
Mina lief in die Pampa hinaus, sie lief und lief, als ob sie dem Schmerz davonlaufen könnte. Endlich ging sie keuchend zu Boden. Auf dem Rücken liegend, starrte sie in den Himmel und schnappte nach Luft. Es dauerte, bis sie sich endlich wieder aufsetzte.
Rings um sie breiteten sich Distelfelder aus, die jetzt, kurz vor dem Winter, an ein riesiges Rübenfeld erinnerten. Schon auf dem Weg nach La Dulce, nachdem sie das Feuchtgebiet hinter sich gelassen hatten, waren Mina diese für die Pampa so typischen Pflanzen aufgefallen.
Zu Sommeranfang, so hatte Eduard ihr erzählt, wuchsen die Disteln so hoch, dass die Straßen nur noch schmale Pfade waren, die sich ihren Weg durch das Pflanzenmeer bahnten. Später vertrockneten sie. Die Blätter schrumpften, wurden blass und verloren ihr Grün. Die Halme verfärbten sich schwarz. Die Überreste blieben dann noch bis Februar oder März stehen, wenn sie von den häufigen Feuern im Sommer und von den heftigen pamperos verschont blieben, und dienten in der baumlosen Steppe als wichtige Quelle für Brennmaterial. Dann kam der Winter, und es folgte das Frühjahr. Ganz plötzlich schossen die Disteln wieder auf eine Höhe von über zwei Metern, und alles stand in voller Blüte. Mit dem Frühlingsregen zwischen September und November erneuerten sich alle weichen Gräser. Für mehrere Monate waren die Weideflächen danach saftig grün und sorgten dafür, dass Rinder und Schafe fett wurden.
Mina atmete tief durch. Sie war allein. Niemand war zu sehen. Die Weite ringsherum war endlos und hätte einen anderen vielleicht in Angst und Schrecken versetzt. Mina aber hatte keine Angst vor der Einsamkeit. Mit einem Mal überrollte sie ein Gefühl der Entschlossenheit, das sie nicht mehr für möglich gehalten hatte.
Ich werde nicht aufgeben, dachte sie. »Ich werde nicht aufgeben, Frank«, rief sie gleich darauf in die Stille hinaus. »Ich schwöre es. Ich werde nicht aufgeben, hörst du! Wir werden unser
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