Die Lagune Der Flamingos
porteños erreichte er die benachbarte Plaza de la Victoria. Sein Weg führte ihn zur Siegessäule. Bisher hatten ihn seine ersten Schritte immer dorthin geführt. Noch nie hatte jemand dort gestanden, aber er musste trotzdem nachsehen. Er musste …
Frank blieb stocksteif stehen. An der Victoria stand heute jemand – nicht irgendjemand, nein, da wartete jemand, den er kannte. Er hatte Annelie seit seiner Flucht aus Esperanza nicht gesehen, aber er erkannte sie sofort. Er bemerkte kaum, dass er sich wieder in Bewegung setzte. Langsam ging er auf sie zu. Inzwischen hatte auch sie ihn bemerkt, doch sie blieb stehen.
Annelie, fuhr es Frank durch den Kopf, Annelie, nichts weiter, denn er konnte plötzlich nichts anderes mehr denken.
Als er direkt vor ihr stand, zeichnete sich ein winziges Begrüßungslächeln um ihren Mund ab. Trotz ihres schweren Lebens hatte sie immer seltsam alterslos gewirkt.
Frank räusperte sich. »Annelie«, sagte er, nur dieses eine Wort.
»Guten Tag, Frank.« Annelie musste sich auch räuspern. »Sie hat mir gesagt, dass du hier auf sie warten würdest.«
»Sie hat es dir gesagt? Warum …?«
Frank brach ab, denn Annelies Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig verändert. Einen Moment lang schaute sie zu Boden, dann hob sie den Kopf wieder. Frank sah Tränen in ihren Augen schimmern.
Nein, dachte er, nein, sie darf es nicht aussprechen. Nein, solange sie es nicht ausspricht, ist es nicht wahr …
»Nein«, rief irgendjemand laut. Es brauchte einen Moment, bevor er verstand, dass er es war, der gerufen hatte.
Annelie streckte unwillkürlich die Hand aus und streichelte Franks Unterarm, auf dem sich die Haare aufgerichtet hatten. Er fröstelte wie in einem Fieber.
»Ich muss es dir doch sagen.« Sie sprach so leise, dass er gezwungen war, sich näher zu ihr zu beugen. »Mina ist tot. Sie hat immer so darauf gehofft, dich wiederzusehen, aber …«
»Wie … Wie ist es … es … geschehen?«
»Die Cholera. Es gab eine Choleraepidemie in Rosario.«
»Ihr wart in Rosario?«
»Ja, das ist eine lange Geschichte … Esperanza, Rosario und all das. Ich will sie dir gern erzählen, und auch, was meine Mina als Letztes zu dir sagen wollte.«
Ein erneuter Schauder überlief Frank. Annelie umfasste nun eine seiner Hände. Ihm fiel absurderweise auf, dass ihre Hände wie die eines Kindes gegen seine Pranken wirkten.
»Sie sagte, sie liebe dich. Das soll ich dir sagen. Du musst glücklich werden. Geh zurück, wo auch immer du hergekommen bist …«
»New York«, murmelte Frank geistesabwesend.
»Geh nach New York«, sagte Annelie, »und behalte im Herzen, dass sie dich geliebt hat.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Philipp Amborn setzte sich vor den Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Er war einmal ein gut aussehender Mann gewesen, einer, dem die Frauen hinterhersahen. Jetzt spaltete eine tiefe Narbe seine Stirn in zwei Hälften und zog sich auch noch ein Stück über die obere Schädeldecke hinweg. Bis auf ein vereinzeltes Büschel wuchsen dort keine Haare mehr. Soweit es ging, verbarg er den unschönen Anblick unter einem Hut. Tändelte er mit einem Mädchen wie früher, kam allerdings stets der Moment, an dem er gezwungen war, den Hut abzulegen. Es war dieser Moment, in dem das Entsetzen auf ihre Gesichter trat. Manche, sogar die, die er bezahlt hatte, musste er dann mit Gewalt zwingen, bei ihm zu bleiben.
Daran ist sie schuld.
Glasklar stand plötzlich Minas schmale Gestalt vor seinen Augen. Ihr trotziges Gesicht, ihre lockigen kastanienbraunen Haare, die Sommersprossen, die ihre schimmernd weiße Haut wie Goldpuder überzogen. Er hasste sie, und er konnte doch nicht ohne sie leben. Er konnte es immer weniger, so erschien es ihm, seit sie verschwunden war. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er von Annelies furchtbarem Angriff genesen war. Es hatte noch länger gedauert, bis er sich wieder an wirklich alles erinnerte und sich allein auf den Weg hatte machen können. Anstatt Mina zu vergessen war die Erinnerung an sie mit den Jahren immer eindringlicher geworden. Deshalb versuchte er nun auch schon so lange, sie wiederzufinden.
Manchmal hatte er den Eindruck gehabt, kurz davorzustehen, aber sie war ihm immer wieder entwischt. Natürlich musste er sich auch noch sein Leben verdienen. Es war nicht mehr so einfach wie in Esperanza, damals, als ihm, wie es ihm jetzt erschien, alles zugeflogen war.
Nach dem Tod seines Vaters – dafür würde dieses Weib, diese Annelie, büßen – hatte er
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