Die Lagune Der Flamingos
erhellend gewesen, mit ihm zu sprechen. John versuchte, an seine Freunde zu denken, viele Anarchisten darunter, zumeist italienische und spanische Immigranten, die sich in ein goldenes Zeitalter natürlicher Existenz zurücksehnten. Auf einmal glaubte er, sie nicht mehr zu verstehen. Und seine Genossen, die Sozialisten? Marlena hatte Recht. Auch sie hatten sich niemals wirklich mit dem Schicksal der Landbevölkerung auseinandergesetzt. Zuweilen hatte man sich halbherzig auf die Seite der unterdrückten einheimischen Landarbeiter, der Zuckerrohrschneider von Tucumán oder der Mate-Pflücker von Misiones geschlagen, doch die allgemeine Haltung war doch stets eine von Herablassung und Indifferenz geprägte gewesen. War das gerecht?
»Hier kannst du etwas erreichen«, hatte Marlena ihn zu packen versucht, nachdem er mit Paulino gesprochen hatte. »Den Männern und Frauen auf La Dulce geht es gut, aber schau dir die benachbarten Estancias an. Stundenlang müssen sie dort schuften. Sie schlafen in von Ungeziefer verseuchten Scheunen, kriegen kaum etwas zu essen. Wenn sie krank sind, behandelt sie kein Arzt, und noch dazu bezahlen sie Wucherpreise für ihre Lebensmittel und was sie sonst benötigen, denn es gibt nur einen Laden im weiten Umkreis.«
John fragte sich wieder einmal, warum es so schwer war, diese Menschen zu organisieren. Er drehte sich zu Paulino herum, der auf seine Bitte noch einmal zu ihm gekommen war, um John mehr vom Leben der einfachen Knechte zu erzählen.
»Warum organisiert ihr euch nicht?«
»Ach, wir sind einfach zu eigen für gemeinsame Aktionen«, grinste der kleine Schnauzbart.
»War das schon immer so?«
Paulino sah nachdenklich aus. »Es hat sich viel geändert«, sagte er. »Einst streiften unsere Väter hier frei wie der Wind umher. Niemand hatte ihnen etwas zu sagen. Heute gibt es überall Zäune. Alles gehört irgendjemandem.« Paulino schüttelte den Kopf. »Eine Zeit lang durfte man sich noch nicht einmal ohne Ausweispapiere erwischen lassen. Wer es doch tat, wurde eingesperrt oder zum Militärdienst gezwungen. In meiner Jugend sind einige meiner Freunde sogar lieber ins Indianergebiet gegangen, als sich einem Militärdienst auszusetzen, von dem man nicht weiß, ob er je endet.«
»Aber die Ausweispapiere für die Reisen im Landesinnern sind doch später abgeschafft worden?«, mischte sich jetzt Marlena ein, die eben herangekommen war.
»Ja«, Paulino schüttelte den Kopf, »und das gab den Beamten noch mehr Gewalt. Wisst ihr, wie viel Macht ein Richter hier draußen hat? Sie leiten die Wahlen und sichern, wenn nötig mit Betrug und Gewalt, den Sieg der offiziellen Kandidaten. Der, der nicht für den richtigen Kandidaten stimmt, wird eingesperrt oder zwangsverpflichtet. Das habe ich mehr als einmal erlebt. Also wählt man eben den, den sie vorschreiben. Madre de Dios , da gäbe es viel, was sich hier ändern müsste.«
Plötzlich drang Lachen zu ihnen herüber. Einen Augenblick später stolperten Blanca und Paco eng umschlungen aus der Tür auf die Veranda heraus. Errötend machten sich die beiden jungen Leute voneinander los. Paco trat einen Schritt vor.
»Es ist nicht so, wie es aussieht. Wir werden heiraten, nicht, Blanca?«
Die junge Frau lachte. »Ja, das werden wir.«
Siebtes Kapitel
Eduard zögerte keinen Moment, die Verlobungsfeier für seine Nichte Blanca auszurichten. Von überall her, sogar aus Buenos Aires und Tucumán, strömten die Gäste herbei. Es war ein wunderschöner Herbsttag, und Annelie schmückte den Hof, gemeinsam mit Appollonia und Ynez. Deutsche, argentinische und italienische Speisen wurden zubereitet, denn auch Maria und Fabio waren gekommen. Der junge Mann stand mittlerweile beinahe ebenso häufig in der Konditorei seiner Mutter wie sie selbst.
Von Lenchen stammte das Kleid, das Blanca trug. Es war aus goldbrauner Seide und betonte ihre schlanke Gestalt. Der Rock war leicht ausgestellt und endete in einer Schleppe. Viktoria war so ergriffen, wie sie es sich von sich selbst nicht hätte vorstellen können. Mehrmals wollte sie, an Annas Schulter gelehnt, in Tränen ausbrechen.
»Mein Paco, mein kleiner Paco.«
Marlena sah, dass der junge Mann angesichts dieser Worte mehr als einmal kopfschüttelnd die Stirn runzelte. Sie war eben in ein Gespräch mit ihrer Mutter vertieft, da eine Magd Aurora und Joaquín für eine Weile beaufsichtigte, als John von der Seite heranschlenderte. Anna und er begrüßten sich mit einem freundlichen, aber
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