Die Lagune Der Flamingos
Mundwinkel kerbte. Offenbar waren es schöne Erinnerungen, denen sie nachhing.
Abends erzählte Marlena ihrem Onkel Eduard von dem, was sie erfahren hatte.
Der nickte. »Ja, ich kenne diesen Brauch, und eine solche Verbindung wird von der ländlichen Gesellschaft hier auch als vollkommen angemessen und moralisch vertretbar angesehen. Offiziell betrachtet sind die Kinder, die in solchen Familien geboren werden, allerdings leider illegitim.«
Doch Marlena lernte noch andere Dinge. In der Stadt hatte sie manches Mal nicht gewusst, was sie während der Arbeit mit Aurora tun sollte. Es hatte zwar Nachbarinnen gegeben, aber die waren nicht immer verlässlich gewesen. Hier draußen in der Pampa war Marlena bald voller Bewunderung für den Gemeinschaftssinn der Frauen – und schaute sich noch einiges mehr von den anderen Müttern ab. So gab Appollonia ihr eine Wiege aus Rindshaut, die man an der Zimmerdecke befestigte und die Marlena bald manch schlaflose Nacht mit Joaquín ersparte.
Für die Kinder war die Pampa ohnehin ein wahres Paradies, ein riesiger Spielplatz, der keine Grenzen kannte. Auf der Estancia selbst gab es Hütehunde, Schafe, Federvieh, Rinder und Pferde. In den nahen Gewässern und der Lagune fanden sich die verschiedensten Vögel.
»Damals«, berichtete Appollonias Paulino mit einem versonnenen Lächeln aus seiner Kindheit, »fischten und schwammen wir Kinder in der Lagune. Wir jagten kleines Wild und stahlen den Bienen den Honig und den Nachbarn die Wassermelonen. Ich glaube, ich habe schon zu der Zeit ein Auge auf meine Appollonia geworfen. Sie war ein wahrer Wildfang. Weit und breit gab es keine bessere Reiterin.«
Die Kinder der Pampa, sowohl Jungen als auch Mädchen, lernten früh reiten. Auch Aurora übte sich bereits. Joaquín quietschte vor Vergnügen, wenn er auf Marlenas Arm seiner Schwester dabei zusah. Manchmal durchfuhr Marlena der Gedanke, dass Aurora und Joaquín hier ein ganz anderes Leben führten, als sie es in der Stadt bei den Meyer-Weinbrenners hätten führen können. Hier draußen waren ihre Spielkameraden die Kinder der Knechte und Mägde, die sich schon von Kindesbeinen an auf ihr späteres Leben vorbereiteten. Die Jungen hantierten, kaum dem Windelalter entwachsen, mit Messern und fingen Hunde mit Lassos. Spätestens mit vier Jahren saßen sie allein auf dem Pferderücken und halfen, das Vieh ins Gatter zu treiben. Die Mädchen strebten unterdessen ihren Müttern nach, lernten den Umgang mit der Haushaltsarbeit und die Handarbeit. Arbeit und Spiel gingen nahtlos ineinander über und waren nicht selten gefährlich. Manchmal fragte Marlena sich, ob sie Aurora und Joaquín hier draußen unnötig gefährdete.
Der Mangel an Ärzten eröffnete Frauen unterdessen ein weiteres Betätigungsfeld. Sie waren nicht nur Hebammen, sie arbeiteten auch als curanderas , als Heilerinnen. Viele Landbewohner zogen die traditionellen Heilmethoden jenen der Ärzte vor. Die curanderas vermischten dabei Pflanzenkunde mit Volksaberglauben und etwas katholischem Dogma. Sie benutzten Anrufungen, magische Ringe aus verschiedenen Metallen, natürliche Brech- und Abführmittel sowie aromatische Kräuter.
Eduard, der davon nichts hielt, seine Leute aber gewähren ließ, lachte, als ihm seine Nichte eines Abends davon berichtete. »Aus Erfahrung kann ich nur eines sagen: Diese verdammten Kräuterdämpfe heilen, oder man erstickt endgültig daran.«
Trotz allem blieb manches in dieser fremden Welt ein Rätsel für Marlena. So war es beispielsweise erniedrigend für einen Gaucho, eine Stute zu reiten. Ebenso galt die Regel, dass es einer Frau niemals erlaubt war, ein gutes Pferd zu besteigen. Ihre Schwäche, so hieß es, werde sich auf das Tier übertragen und es unfolgsam machen.
»Man sagt sogar«, Appollonia lachte, während Marlena ihre Empörung nur schwer bezähmen konnte, »es werde seine Widerstandsfähigkeit und sein Fell verlieren und zu nichts mehr nütze sein.«
Marlena schluckte die spitze Bemerkung herunter und machte sich weiter Notizen. Nach und nach füllte sie Seite um Seite.
Und dann kam der Tag, an dem John auf La Dulce eintraf.
Sechstes Kapitel
Marlena, Estella, Blanca und Paco kehrten gerade von einem kleinen Ausflug zurück, als Estella die Freundin auf John aufmerksam machte.
»Marlena?«
»Was ist denn?«
Marlena hatte wohl die Dringlichkeit in Estellas Stimme bemerkt, doch im Moment wollte sie eigentlich nur hören, was Blanca aus Patagonien zu berichten wusste.
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