Die Lagune Der Flamingos
Clementio schüttelte den Kopf. »Wir haben auch alle mal klein angefangen und mussten hart arbeiten.«
Don Augusto und Don Mariano schienen den Einwurf ihres Nachbarn amüsant zu finden – Don Clementio war ein dicklicher Mann, der in seinem Leben bisher keine schwere körperliche Arbeit geleistet hatte –, doch sie sagten nichts.
Eduard schüttelte ebenfalls müde lächelnd den Kopf. Wie konnte man die Wirklichkeit nur so verdrehen? Er wusste, dass die meisten Großgrundbesitzer nichts oder nur wenig getan hatten, um in den Besitz ihres Landes zu kommen. Großgrundbesitz hatte seinen Ursprung meist im kolonialen Erbe. Um dem chronischen finanziellen Defizit Herr zu werden, hatten damals mehrere aufeinanderfolgende Regierungen billig Land verkauft. Die schwache Kontrolle und Administration in den Grenzregionen führte im Weiteren dazu, dass die Landfrage von lokalen Beamten entschieden wurde, die sich gern den Wünschen der Mächtigsten beugten. Korruption war in diesem Bereich schon immer weitverbreitet gewesen.
»Aber Don Clementio«, sagte Eduard und lächelte weiter milde, »sogar die Landwirtschaftsgesellschaft hat bereits 1882 eine moderate Reform empfohlen. Das alarmierende Elend, in dem ein Großteil der Landarbeiter lebt, führt letztlich zu unzähligen Verbrechen, sagen sie. Wer kann an einem solchen Zustand denn Interesse haben?«
»Nun, niemand muss zum Verbrecher werden. Soll er doch zu mir kommen und für mich arbeiten.«
»Für eine sehr kurze Saison.«
Jetzt mischte sich Don Mariano wieder ein. »So ein kleiner Knecht könnte ohnehin nichts mit dem Land anfangen. Um Land zu kaufen und zu bewirtschaften, braucht man Entschlossenheit zur Leistung, Entschlossenheit, sich den Marktbedingungen anzupassen und schnelle Entscheidungen zu treffen.«
Eduard seufzte. Wirklich jedes Vorgehen gegen die Großgrundbesitzer schien vergeblich. Die ländliche Gesellschaft blieb einfach in zwei Gruppen geteilt: die Großgrundbesitzer auf der einen Seite, landlose Wanderarbeiter und der kleine Bauer, der von einem kurzfristigen Pachtverhältnis ins andere wechselte, auf der anderen. Es würde noch lange dauern, bis sich daran etwas änderte – trotzdem war Eduard fest entschlossen, seinen Weg weiterzugehen. In diesem Moment aber schluckte er schweren Herzens einen weiteren Kommentar herunter.
Anna und Viktoria hatten sich lange nicht gesehen und viel zu besprechen.
»Besuch uns doch einmal«, sagte Viktoria eben. »Mit der Eisenbahn ist es doch recht bequem. Du musst jetzt nicht mehr tagelang durch die Wildnis reiten.« Sie lachte.
Anna stimmte ein. Der Bau der Eisenbahn hatte auch die Entwicklung der argentinischen Landwirtschaft deutlich vorangetrieben. Die nunmehr relativ günstigen Transportmethoden erleichterten die Verbreitung landwirtschaftlicher Produkte aus dem Landesinneren, darunter Zitrusfrüchte, Oliven, Tabak, Baumwolle und Holz, dies unter anderem für die Papierherstellung. Tucumán gehörte dabei zu den besonders begünstigten Orten. Die Zuckerindustrie boomte und machte die Zucker-Estancieros reich.
»Machen euch eure Nachbarn eigentlich immer noch Ärger?«, erkundigte sich Anna.
Viktoria zuckte die Achseln. »Mal mehr, mal weniger. Und wie ist es bei euch? Beeinträchtigt die Eisenbahn dein Geschäft?« Viktoria musterte die Freundin interessiert.
»Nein«, Anna schüttelte den Kopf, »Julius und ich haben sogar investiert.«
»Ach, ich dachte, die Bahnen seien in britischer Hand.«
»Julius hat gute Beziehungen.«
Viktoria nickte verstehend und nippte an ihrem Wein.
Der Bau der ersten Eisenbahnstrecke war 1857 abgeschlossen. Sie führte von Buenos Aires aus nach Westen. Gegen Ende der Sechzigerjahre war die Verbindung zwischen Rosario und Córdoba fertig. Seitdem konnte man Waren, die vorher mühsam mit Ochsenkarren hatten transportiert werden müssen, auf der Schiene befördern. In den Siebzigern waren in Zentralargentinien gut sechshundertfünfzig Kilometer Eisenbahn verlegt worden. Ein weiteres wichtigeres Streckensystem, mit Buenos Aires als Netzknoten, führte nach Westen zur Stadt Flores, entlang der Flussmündung in nördlicher Richtung nach Rosario und bis zum südlich gelegenen Chascomús.
»Du warst immer sehr umsichtig, Anna«, sagte Viktoria jetzt. »Darum beneide ich dich manchmal.«
Anna hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.
Ich musste es sein, dachte sie bei sich. Du dagegen musstest erst lernen, welche Schwierigkeiten einem das Leben bereiten
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