Die Lagune Der Flamingos
standen an der Hauswand, sogar Bäume hatte Anna pflanzen lassen. Offenbar hatten die Frauen gemeinsam Tee getrunken und Gebäck zu sich genommen. In einer Ecke lagen Leonoras Spielsachen, Marlena hatte wohl gelesen. Sie hielt ein Buch in der Hand – Reisebeschreibungen, wenn er das auf die Entfernung richtig erkannte. Seine Nichte sah nachdenklich aus.
Jetzt ist die kleine Marlena schon fast sechzehn Jahre alt, fuhr es Eduard durch den Kopf, fast erwachsen ist sie.
Er nahm etwas von dem Gebäck, das Maria ihm anbot, und hörte zu, wie Anna stolz von der Entwicklung ihres Fuhrunternehmens berichtete. Julius und sie waren mittlerweile auch in den Großhandel eingestiegen und beteiligten sich sogar am Eisenbahnbau. Eduard beglückwünschte Lenchen zu ihrem kleinen, aber feinen Schneideratelier, das sie seit nunmehr drei Jahren in der Nähe der Calle Florida, unweit von Marias Konditorei, betrieb.
Am Abend saßen sie um den großen Tisch im Esszimmer, tauschten noch mehr Erinnerungen aus und sprachen über das Hier und Jetzt. Mit der Wahl des Präsidenten, die zwischen Julio A. Roca und Carlos Tejedor ausgefochten wurde, hatte der Konflikt um die Hauptstadtfrage wieder einmal einen Höhepunkt erreicht. Die einen wollten Buenos Aires als Hauptstadt der gleichnamigen Provinz behalten, die anderen drängten, sie zur permanenten Hauptstadt Argentiniens zu machen. Kürzlich war sogar der Belagerungszustand proklamiert worden, doch die Kämpfe hatten sich auf die südlichen Außenbezirke von Buenos Aires konzentriert. An den Meyer-Weinbrenners waren sie unbemerkt vorbeigegangen. Im Folgenden war Buenos Aires als Hauptstadt und politisches Zentrum Argentiniens bestätigt worden.
»Und jetzt wird Roca wohl zum Präsidenten gewählt werden«, bemerkte Julius, »und dann stellt er wie alle Präsidenten seine hungrigen Verwandten und Freunde an die Spitzen der Verwaltungen und Banken.«
Zustimmendes Gemurmel war zu hören, schon widmete man sich einem neuen Thema. Julius war kürzlich von einer Geschäftsreise aus dem Süden zurückgekommen, wo es seit der Beendigung des erfolgreichen Feldzugs gegen die Indianer viel Land zu vergeben gab. Marlena hing ihm an den Lippen, und Eduard bemerkte bald, dass das Mädchen für sein Leben gern selbst solch weite Reisen unternehmen wollte.
»Wusstest du übrigens, dass Viktoria und Pedro jetzt in Tucumán wohnen?«, fragte Anna, die direkt neben ihrem Bruder saß, Eduard jetzt leise. »Offenbar gab es Schwierigkeiten in Salta.«
Eduard schüttelte den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht. Wo ist eigentlich Lenchen? Ich dachte, ich würde sie zum Abendessen noch einmal sehen.«
Anna schmunzelte. »Sie arbeitet gerade an ihrer neuesten Kollektion und will nicht gestört werden. Vielleicht beehrt sie uns aber noch später mit ihrer Anwesenheit.« Sie seufzte. »Manchmal glaube ich, sie braucht keinen Schlaf.«
»Geht es ihr gut?«
Anna nickte. »Ja, ihre Kleider sind gefragt. Schade, dass du so lange mit deinem Besuch gewartet hast. Wie du siehst, hat sich viel getan während deiner Abwesenheit.«
»Allerdings. Es scheint mir, eben lag Leonora noch in den Windeln, und jetzt spricht sie schon wie eine kleine Erwachsene.«
Anna zuckte bedauernd die Achseln. »Ich fürchte, sie ist tatsächlich zu viel mit Erwachsenen zusammen. Ach«, sie seufzte, »es gibt einfach immer Arbeit.«
Eduard nickte. »Du sagst es. Für mich spielt sich die Sache auf La Dulce auch erst jetzt langsam ein. Ich habe gute Arbeitsgehilfen, auf die ich mich verlassen kann …«
Aber das war es natürlich nicht ausschließlich, und Anna schien das zu ahnen, denn Eduard musste jetzt ihrem prüfenden Blick ausweichen. Natürlich gab es immer viel zu tun auf einer Estancia. Er war zurückgekehrt, weil ihn plötzlich die Erinnerungen an vergangene Tage quälten. Mit einem Mal war ihm, als wäre Jahre zuvor etwas geschehen, mit dem er nicht abgeschlossen hatte. So viele Dinge waren noch nicht geklärt. So vieles war da, was er nicht verstand. Er lächelte seine Schwester an.
»Ich habe den Eindruck, Julius und du, ihr wolltet noch weiter expandieren. Ist das wirklich so? Man hört doch allenthalben, die Wirtschaft erlebe gerade eine Flaute.«
Anna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, die geht vorüber. Alles geht vorüber, wie du weißt.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Du wirst während deines Aufenthalts natürlich hier bei uns wohnen«, fuhr sie dann fort.
Eduard nickte. Ihm fiel auf, dass ihre Stimme
Weitere Kostenlose Bücher