Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
werden. Folglich war dies hier für die sensationslüsternen Venezianer eine der wenigen Gelegenheiten, aus nächster Nähe die Ankunft eines Transportes zu verfolgen.
Laura widerstand dem Verlangen, über die Schulter zurückzublicken, als sie den Scheitelpunkt der Brücke erreicht hatten. Stattdessen schaute sie über das steinerne Geländer hinab in das schwarze Wasser der Lagune, das in sachten Wellen unter dem Ponte della Paglia hindurchschwappte und sich mit der Strömung des Rio di Palazzo verband, dem Kanal, der zu ihrer Rechten am Ostflügel des Dogenpalastes vorbeiführte. Gleich darauf wurde ihr Blick unweigerlich auf die beiden hohen Granitsäulen am Rand der Piazzetta gelenkt, oder genauer: auf eine der beiden, diejenige mit dem geflügelten Markuslöwen.
Die andere Säule trug eine Statue von San Todaro, die Laura wenig beeindruckend fand. Es war allein der Löwe, der sie in seinen Bann zog. Die Augen mit der Hand gegen die Sonne beschattend, schaute sie zu der Skulptur auf, und wie immer stellte sie sich vor, wie es wäre, hinaufzuklettern und den Löwen zu erklimmen, einfach auf seinen Rücken zu steigen und ihn aufzufordern, mit ihr über die Lagune davonzufliegen, weit hinaus, in ferne Welten, die noch kein Menschenauge gesehen hatte.
Sie wusste genau, dass das törichte Kinderträume waren, verrückte Gedanken eines verrückten Mädchens, das zu viele Geschichten gehört hatte. Doch mochten die Geschichten, die Vater ihr erzählte, auch lauter Märchen sein – es hatte eine Zeit gegeben, da sie jedes Wort davon geglaubt hatte, und es gab immer noch Augenblicke, so wie diesen, in denen sie nur einen Atemzug davon entfernt war, ihre Träume für wahr zu halten. Den Löwen von San Marco durch einen Zauber zum Leben zu erwecken und auf seinem Rücken davonzufliegen war einer davon.
Ihr Vater war ihren Blicken gefolgt und fuhr ihr durchs Haar.
»Das war immer deine Lieblingsgeschichte«, sagte er. »Auf den Schwingen des Löwen ...«
Hinter ihnen wurden Rufe laut, und als Laura sich umdrehte, sah sie, dass die Zuschauer von der Gruppe der Sklaven zurückwichen, wobei nicht wenige der Menschen versuchten, sich hinter anderen zu verstecken, ohne jedoch Anstalten zu machen, sich vom Schauplatz des Geschehens zu entfernen.
»Haltet ihn auf!«, schrie eine Frau mit schriller Stimme inmitten des Gerangels. »Er wird uns alle töten!«
Der große Sklave hatte einem Patrizier aus der Menge das Schwert entrissen und hielt es mit seinen gefesselten Händen umklammert. Der Junge war in etwa zehn Schritten Entfernung von der Gruppe gestolpert und hingefallen; vielleicht hatte ihn auch der Aufseher zu heftig geprügelt und damit seinen Sturz verursacht. Jedenfalls lag er der Länge nach im Staub der Uferstraße.
Der Portugiese brüllte etwas in seiner Sprache, worauf der Schwarze ihm mit kehliger Stimme ein paar ebenso unverständliche Wörter entgegenschrie. Gleichzeitig sprang er mit klirrenden Ketten vorwärts, mehr torkelnd als gehend, und unter den Aufschreien der Zuschauer blieb er stehen, senkte das Schwert und schnitt dem Knaben die Fußfesseln durch.
Einer der Aufseher brachte genug Mut auf, sich dem Schwarzen von hinten zu nähern. Er hatte den Stock erhoben, zu einem Schlag, der sicher tödlich gewesen wäre, hätte der Aufseher ihn ausführen können.
Doch das Entsetzen in den Gesichtern der Umstehenden musste den Sklaven gewarnt haben, denn im selben Moment, als der Knüppel niedersauste, fuhr er herum, das Schwert immer noch mit beiden Händen umklammernd. In einem blitzenden Bogen zuckte es aufwärts und traf den Aufseher an der Kehle. Der Mann stieß einen gurgelnden Schrei aus und prallte zurück. Er ließ den Stock fallen und griff sich mit beiden Händen an den Hals, als könnte er so das Blut stillen, das sprudelnd aus seiner Wunde drang. Während er zurückwich und dabei ins Schwanken geriet, ging ein Aufstöhnen durch die Menge, das vereinzelt in Schreie mündete, als der Aufseher in die Knie brach und mit glasigen Augen vor sich hin starrte.
Der Schwarze ließ das Schwert sinken, riss es aber gleich darauf in einer drohenden Gebärde wieder hoch, als einige der männlichen Zuschauer sich ihm näherten, unter ihnen der Patrizier, dem der Sklave das Schwert entrissen hatte, sowie der Portugiese, in dessen Gesicht ein mörderischer Ausdruck stand. Er hatte ebenfalls blankgezogen und rückte näher, das Schwert vorgestreckt.
»Komm weiter, mein Kind!« Ihr Vater versuchte, Laura
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