Die Landkarte der Liebe
aufflattern könnten.
Sie blätterte behutsam weiter und bewunderte die elegante Handschrift ihrer Schwester. Gerade in den kleinen Dingen war Mia nachlässig gewesen â ihr Portemonnaie war mit seinen vielen Quittungen so hart wie ein Ziegelstein, ihre Bücher waren voller Eselsohren und Kritzeleien gewesen â, aber die Handschrift in ihrem Tagebuch war sorgfältig und ebenmäÃig. Die Einträge ordneten sich um Zeichnungen herum, um kleine Notizen, Ausschnitte von Landkarten und Erinnerungsstücke von ihren Reisezielen. Jede Seite war ein Kunstwerk, das eine kleine Geschichte zu erzählen wusste.
»Alles okay?« Ed erschien in der Tür.
Sie nickte.
Er schaute auf den Rucksack. »Siehst du ihre Sachen durch?«
»Ich hab ihr Tagebuch gefunden.«
Er zuckte überrascht zusammen. »Ich wusste gar nicht, dass sie so was hat.« Er schob die Hände in die Taschen. »Willst du es lesen?«
»Ich denke schon. Ja. Ich weià doch gar nichts über ihre letzten Monate.« Und über Mia auch nicht. Sie hatten seit ihrer Abreise kaum miteinander gesprochen. Wann hatten sie sich so entfremdet? Sie waren sich doch einmal nah gewesen. Sie seufzte. »Warum ist sie bloà gegangen, Ed?«
»Auf Reisen?«
»Ja. Das kam so plötzlich. Irgendetwas muss passiert sein.«
»Sie war impulsiv. Jung. Gelangweilt. Mehr war wahrscheinlich nicht.«
»Ich hätte sie nicht fahren lassen dürfen.«
»Katie«, sagte er sanft, »das war ein langer Tag. Vielleicht solltest du das heute Abend nicht mehr lesen. Warte doch bis morgen früh. Ich wollte uns gerade was zu essen machen. Komm mit in die Küche und leiste mir Gesellschaft.«
»Gleich, vielleicht.«
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, schlug Katie das Tagebuch aufs Geratewohl wieder auf. Sie sprang von einer Zeile zur anderen, als wären die Wörter zu heiÃ, um auf ihnen zu verweilen â Aschewüste , Finn und ich , dunkelvioletter Himmel , Mondlandschaft . Sie kniff die Augen zusammen, schlug sie wieder auf und versuchte, sich auf einen ganzen Satz zu konzentrieren. Es gelang ihr nicht. Ihr Blick wanderte über die Wörter, doch ihr Verstand weigerte sich, deren Sinn zu erfassen.
Frustriert blätterte sie weiter. Sie stieà auf eine kleine Zeichnung, ein Vogel flog vom unteren Rand der Seite auf, dann auf einen Eintrag, dessen Wörter sich spiralförmig nach innen wanden wie in einen Abgrund. Katies Puls beschleunigte sich, als sie sich auf das Ende des Tagebuchs zubewegte. Ihre Finger berührten die Ränder der Seiten nur noch flüchtig.
Auf der letzten Seite hielt sie inne. Dort standen sicher Dinge, die sie gar nicht wissen wollte, aber so, wie es Passanten mit Macht zu einer Unfallstelle zieht, so musste schlieÃlich auch sie hinschauen.
Sie blickte auf Mias letzten Eintrag. Es war die linke Hälfte einer Doppelseite, die gegenüberliegende Seite fehlte. Jemand hatte sie herausgerissen. Katies Augen wanderten über eine rätselhafte Zeichnung, die aus vielen kleinen Einzelbildern bestand: das Profil einer Frau, darin eine tosende dunkle Welle, ein Mund, zu einem Schrei geformt, fallende Sterne, ein Galgenmann aus sechs Strichen, ein Telefon, das lose an einer Schnur baumelte.
Katie schlug das Tagebuch mit einer heftigen Bewegung zu. Sie stand auf.
Sie hätte nicht hineinschauen dürfen, es war zu früh. Schon jetzt tauchten wieder neue Fragen auf. Was hatten diese Bilder zu bedeuten? Warum fehlte eine Seite? Sie musste das Tagebuch wieder in den Rucksack stecken, zurück an seinen Platz. Vielleicht lieà sich so die Flut der Fragen bannen, doch in ihrer Hektik rutschte ihr das Tagebuch aus den Händen und fiel auf den Boden. Ein Stück Papier glitt heraus.
Katie bückte sich danach. Es war der Abschnitt von Mias erster Bordkarte: London Heathrow nach San Francisco. Sie strich mit den Fingern über das glatte weiÃe Papier und stellte sich dabei vor, wie Mia in San Francisco landete, erwartungsvoll und aufgeregt. Sie versuchte, sich auszumalen, an welchen Orten Mia wohl gewesen war, was für Leute sie kennengelernt, was sie erlebt hatte â doch sie wusste nichts von dieser Reise. Es waren sechs mysteriöse Monate, über die sie so gern mehr erfahren hätte. Sechs Monate, die das Tagebuch ihr erschlieÃen konnte.
Gedankenvoll drehte sie Mias Bordkarte hin und her. Ihr kam eine
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