Die Landkarte der Liebe
sehr gern mit dir.«
Am Tag nach der Beerdigung, nachdem sie das Tagebuch gefunden hatte, hatte sie Ed damit erwischt. Er hatte nachsehen wollen, ob irgendetwas darin stand, was Katie aus der Fassung bringen könnte. Natürlich meinte er es gut, doch sie brauchte seinen Schutz nicht. Sie brauchte seine Unterstützung.
»Wenn ich Mias Tagebuch erst einmal gelesen hab«, erklärte sie, »kommen keine neuen Erinnerungen mehr. Das war es dann â dann ist sie wirklich tot.« Und wenn sie lediglich durch die Seiten blättern würde, immer und immer wieder, würden die Worte bedeutungslos und stumpf wie ein Stapel alter Fotos, der mit der Zeit verblichen war. Aber wenn sie die Einträge in dem Land lesen würde, in dem Mia sie geschrieben hatte, und erleben würde, was Mia erlebt hatte, dann wäre das so, als wäre sie bei ihr â als wäre dieses halbe Jahr nicht ganz verloren. »Ich muss das tun, Ed.«
Er stand auf und öffnete das Fenster. Schwere Bässe wummerten aus einem Auto. Ed legte die Hände auf die niedrige Fensterbank und sah eine Weile wortlos auf die StraÃe.
»Ed?«
»Ich liebe dich«, fing er langsam an und wandte sich ihr zu, »aber ich halte das für einen Fehler. Was ist mit all dem, was du hier hast, was dich hier erwartet? Was ist mit unserer Hochzeit?«
Die Hochzeit war für Mitte August geplant. Sie hatten in einem lauschigen Landhaus in Surrey gebucht, das sie an jenem Wochenende mit der Familie und den engsten Freunden übernehmen wollten. Katie hatte unzählige Abende mit der Suche nach einer Band verbracht, die über Mitternacht hinaus spielen würde, mit der Frage, ob es zum Dessert Käsekuchen oder Profiteroles geben sollte, und mit dem Sammeln alter Bilderrahmen, die sie für die Dekoration benötigte. Doch all die Aufregung und die Vorfreude, die sie in jener Zeit empfunden hatte, gehörten nun zu einem Leben, das nicht mehr das ihre war.
»Ich bleibe ja nicht lange fort. Höchstens ein paar Monate.«
»Ich weiÃ, dass du gerade die Hölle durchmachst«, sagte er und schob ein zartes Windlicht beiseite, damit er sich setzen konnte. »Und ich wünschte, ich wünschte mir wirklich, dass ich irgendetwas tun könnte, um dir diese Zeit ein wenig erträglicher zu machen. Doch ich kann dir eines sagen, Schatz: Ich bin tief und fest davon überzeugt, dass es besser für dich wäre, wenn du nach vorn und nicht zurückschauen würdest.«
Sie nickte. Er hatte nicht ganz unrecht.
Er wies auf den Platz neben sich. Katie stand auf und setzte sich zu ihm. Sie roch noch Spuren seines Rasierschaums und die frische Note seines Aftershaves. Er sah so gut in seinem Anzug aus. Die passende schiefergraue Krawatte hatte Katie ihm geschenkt. Sie malte sich gern aus, wie seine Finger bei Besprechungen über die Rohseide strichen und seine Gedanken den Konferenzraum dabei verlieÃen und zu ihr wanderten.
»Das ist nicht die Lösung«, sagte er mit Blick auf Mias Tagebuch, das Katie immer noch in Händen hielt. In seiner Stimme klang ein Lächeln mit: »Na komm, für dich sind Flugzeuge doch das pure Grauen! Du bist noch nie über Europa hinausgekommen. Du begibst dich in Gefahr, so ganz allein auf Rucksacktour.« Er legte eine Hand auf ihr Bein und rieb es sanft. »Lass uns das gemeinsam durchstehen. Hier.«
Ed ging Probleme immer sehr pragmatisch an; das war eine der vielen Eigenschaften, die sie an ihm bewunderte. Vielleicht war es ein Fehler. Auf die andere Seite der Welt zu fliegen und ihm kein verlässliches Datum für ihre Rückkehr in Aussicht zu stellen, war Ed gegenüber nicht fair. Das sah sie ein. »Ich weià nicht mehr, was richtig ist.«
»Katie«, sagte er leise, »irgendwann musst du sie loslassen.«
Sie fuhr mit den Fingern über den meerblauen Umschlag und versuchte, sich die Situationen vorzustellen, wenn Mia in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Sie malte sich aus, wie Mia träge in einer Hängematte schaukelte, die gebräunten Beine ausgestreckt, und ihr Stift über die cremefarbenen Seiten glitt. Das Tagebuch bewahrte Mias intimste Gedanken, und Katie hielt es in den Händen.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich muss erst wissen, was geschehen ist.«
Ed seufzte.
Sie fragte sich, ob er sich seine Meinung schon gebildet hatte. Er hatte Mia immer nur von ihrer schlimmsten Seite
Weitere Kostenlose Bücher