Die Landkarte der Liebe
gesagt.
»Wie ist das passiert?«, insistierte sie.
»Es tut mir leid, Mia.«
Eine stechende Angst flimmerte hinter ihrer Stirn. »Ich muss es wissen.«
Er seufzte. »Mein Bruder war ein komplizierter Mensch. Und dabei war er so begabt. Er war ein groÃartiger Songschreiber â eigentlich war er mehr Poet als Texter. Ich habe niemals Worte gehört, die an seine heranreichen. Seine Fans haben immer nur den wilden, ungezügelten Musiker gesehen, der sich in die Menge fallen lieà oder wie besessen tanzte â aber niemand hat geahnt, wie viel er trinken musste, bevor er auf die Bühne gehen konnte.« Der Wind hob den Rand des Sonnenschirms und blies Asche quer über den Tisch. Mick wischte sie weg, doch dabei rieb er graue Streifen in das Holz.
»Es war nicht immer leicht, mit ihm zurechtzukommen. Ein ewiges Auf und Ab. Dinge, die an anderen Menschen abperlen, haben ihn regelrecht aufgefressen. Er war sehr tiefgründig. Das hat ihn oft isoliert, und manchmal hat er tagelang mit keiner Menschenseele sprechen wollen. Und dann war er wieder wild und völlig auÃer Kontrolle.« Mick machte eine kleine Pause. »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass er sich selbst leiden konnte.«
Mia lief ein Kribbeln über den Rücken: Diese wenigen Sätze beschrieben sie.
»Nachdem es mit Grace zu Ende war, ist ihm alles entglitten, sogar die Musik. Die Band hat sich aufgelöst, ich war nicht mehr da, sein ganzes Geld ist für Alkohol und Drogen draufgegangen. Nach wenigen Monaten hatte er alles verloren. Er war ein Wrack.« Mick seufzte. »Wir waren uns einmal sehr nahe gewesen. Er war ein fantastischer Musiker, aber die Rolle als Frontmann einer Band hat nicht zu ihm gepasst. Ich hatte ihn dazu gedrängt. Ich hatte das Händchen fürs Geschäft, nicht aber sein Talent. Und das habe ich ihm sehr übel genommen.«
Mick wischte ein letztes Häufchen Asche weg. »Niemand kannte ihn so gut wie ich, und darum konnte ich mir vorstellen, wie schwer es damals für ihn war, ohne Grace. Ich hatte gehört, dass er ganz tief unten war, aber ich habe ihn nie angerufen.« Mick schaute in die Ferne, als ob Mia gar nicht da und er mit seinen Erinnerungen allein wäre. »Ich war sein Bruder. Ich wusste, wie intensiv seine Gefühle waren.« Seine Augen schimmerten. »Ich hätte mich um ihn kümmern müssen, aber mir hat mein Stolz im Weg gestanden. Das werde ich mir nie verzeihen.«
»Was ist passiert?«, fragte Mia und wurde immer unruhiger.
Er sah sie an, sein Blick war voller Trauer. »Harley wurde tot in einem Hotelzimmer aufgefunden.« Seine Stimme brach. »Er hatte sich erhängt.«
Benommen ging Mia auf dem gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen war, doch nichts war mehr wie vorher.
Sie war nicht Micks Tochter.
Ihr Vater hatte Selbstmord begangen.
Ihre Mutter hatte es vor ihr verheimlicht.
Katie war ihre Halbschwester.
Unter einer brennenden Sonne eilte Mia mit gesenktem Blick die StraÃe entlang. Ihr Atem ging rasselnd, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Ihr Leben, alles, woran sie geglaubt hatte, war eine Lüge.
Katie. Sie musste ihre Stimme hören. Am Ortsrand stand eine Telefonzelle. Mia rannte los. Auf Beinen, die nicht mehr ihr zu gehören schienen. Sie musste zwei Teenagern ausweichen, die, Milchshakes schlürfend, die StraÃe überquerten. Sie achtete kaum auf den Verkehr.
Ein Riss im Asphalt wurde zur Stolperfalle, schmerzhaft stieà sie sich die Zehen an. Sie bückte sich, zerrte sich die Flip-Flops von den FüÃen und rannte weiter, über den rauen, heiÃen Bürgersteig bis zur Telefonzelle.
Sie nahm Kleingeld aus der Tasche. Ich muss mit Katie sprechen. Ihr alles erzählen. Sie nahm den Hörer ab und warf die Münzen ein.
Der Wählton erklang. Mia kniff die Augen zu und versuchte, sich an die Vorwahl von GroÃbritannien zu erinnern. Dann drückte sie mit zitternden Händen auf die Tasten.
Sekunden später nur meldete sich Katie. »Hallo?« Die Leitung knackte und rauschte, Katies Stimme klang so fern, als wären sie bereits getrennt.
Halbschwestern.
Halb.
Sie hasste dieses Wort, es trieb einen Keil zwischen sie und Katie, mitten hinein in das, was von ihrer Familie geblieben war.
Wie gern hätte sie den Tränen, die sich in ihrer Kehle stauten, freien Lauf gelassen. Wie gern hätte sie Katies Versicherung gehört, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher