Die Landkarte der Liebe
ihre kleine Schwester liebte und sich für alles eine Lösung finden würde. Doch stachelige Zweifel bohrten sich in ihren Kopf. Es könnte doch sein, dass Katie sie nun weniger liebte. Katie hatte immer gemerkt, wie anders Mia war. Und überhaupt â war nicht sie der Grund, weshalb Mick fortgegangen war?
»Hallo?«, meldete sich Katie ein zweites Mal.
Mia biss die Zähne zusammen, verschloss den Mund vor all den Worten, die sie nicht sagen konnte, und legte den Hörer langsam wieder auf.
Sie war nach Maui gekommen, um herauszufinden, ob sie das Spiegelbild ihres Vaters war. Nun musste sie mit dem, was sie herausgefunden hatte, auch leben.
Kapitel 11
Katie
Westaustralien, Mai
Vor der Hitze und den Fliegen gab es kein Entrinnen, und doch war die weite, karge Landschaft Westaustraliens von einer rauen Schönheit. Katie war einen Monat lang auf Mias Spuren im Backpacker-Bus Richtung Süden gereist. Den Kopf an die heiÃen Scheiben gelehnt, hatte sie sich auf der endlosen StraÃe, immer geradeaus durch das Buschland, in eine angenehme Betäubtheit schaukeln lassen.
Sie hatten Lancelin erreicht, ein Küstenstädtchen nördlich von Perth, in dessen Hafen jeden Nachmittag die Langustenboote anlegten und ihren Fang entluden. Katie lag an einem Swimmingpool, im Schatten eines Sonnenschirms, neben ihr das Tagebuch. Es war noch nicht einmal zehn Uhr, doch die Luft flirrte bereits vor Hitze, und kein Lufthauch war zu spüren.
Ein Flugzeug durchquerte den wolkenlosen blauen Himmel und zog einen weiÃen Streifen hinter sich her, der allmählich vor Katies Augen zerfaserte. Von Mia stammte die kindliche Behauptung, Kondensstreifen wären Wolken, die das Flugzeug eingeÂatmet hätte und dann mit einem langen weiÃen Zischen wieder ausstoÃen würde. Katie hatte ihr damals nicht widersprochen, sondern versucht, die Welt durch Mias Augen zu betrachten, weil auch sie die Wunderwelten sehen wollte, an die Mias Vorstellungskraft gelangte.
Ihre Halbschwester. Konnte man etwas halb sein, wenn man doch ganz verbunden war?
Sie schob sich eine Strähne aus dem Gesicht. Dieser Ausdruck war ihr zuwider. Ja, sie hatten sich stark voneinander unterschieden â doch nun hatte ihre Verschiedenheit ein Etikett. Sie sehnte sich nach Mia. Wie gern hätte sie sich mit ihr daheim auf das Sofa gekuschelt, jede in ihrer Ecke, mit einer Tasse Tee, und mit ihr Âdarüber gesprochen. Gemeinsam hätten sie das alles bewältigen, vielleicht irgendwann darüber lachen können. Doch nun war Mia tot, und selbst im Tod war sie ihr noch einmal ein Stück entrissen worden.
Katie fuhr mit dem Finger über einen Satz, der sich in die Seite drückte. Sie wollte Mias Worte spüren. Sie beschrieben jetzt keine Städte oder Länder mehr, und die Begeisterung früherer Notizen war erloschen. Nun brodelte eine stille Wut in Mias Zeilen. Der Groll hatte sich anfangs gegen ihre Mutter gerichtet, weil sie ihr die Wahrheit über Harley verschwiegen hatte. Die moralischen Normen, die sie ihren Töchtern vermittelte, basierten auf Wahrheit und Vertrauen, und dass ausgerechnet ihre Mutter die eigenen Glaubensregeln verletzt hatte, musste Mia in ihren Grundfesten erschüttert haben.
Viel beunruhigender aber waren Mias spätere Einträge, in denen sich eine regelrechte Besessenheit von Harley zeigte. Vor Katie lag die Abschrift eines seiner Texte, den Mia auf einer obskuren Internetseite entdeckt hatte. Sie hatte einzelne Wörter und Zeilen hervorgehoben und eine Verbindung zu einem Vater gesucht, den sie nie gekannt hatte. Auf der nächsten Seite waren Fragen formuliert: Wie war er? Wer stand ihm nahe? Wo hat er sich heimisch gefühlt? Für Katie war es offensichtlich, dass hinter diesen Fragen eine stand, der Mia keinen Ausdruck verliehen hatte: Bin ich wie er?  Harley hatte mit vierundzwanzig Jahren Selbstmord begangen â Mias Alter. Diese Tatsache musste an Mia genagt haben, so wie jetzt auch an Katie. Obwohl Katie versuchte, die Stimme zu überhören, die ihr zuflüsterte, dass sich die Geschichte wiederholte, lieà sich die verstörende Duplizität der Ereignisse nicht leugnen.
Plötzlich näherten sich Schritte über den Beton, dann packten kalte Hände ihre Taille. Katie wurde hochgehoben. Sie schrie, das Tagebuch glitt ihr aus den Fingern und landete halb aufgeschlagen neben dem Becken, ein kleines, schiefes Zelt.
Ed
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