Die Landkarte der Zeit
Sie hatte es geschafft! Es war unglaublich. Doch dann
griff die Panik nach ihr, als ihr bewusstwurde, dass sie in dieser schrecklichen Welt nun ganz allein war; andererseits, sagte
sie sich gleich darauf, hatte sie genau das ja gewollt. Alles lief genau so, wie sie es geplant hatte, als sie in die
Cronotilus
eingestiegen war. Wenn nichts mehr dazwischenkam, würde sie im Jahr 2000 bleiben. War es nicht das, wonach sie sich gesehnt
hatte? Sie atmete hörbar aus und trat aus ihrem Versteck. Wenn |346| sich alles so entwickelte, wie sie es berechnet hatte, würde man ihre Abwesenheit entdecken, wenn die Gruppe die Zeitstraßenbahn
erreichte. Darum musste sie sich sputen, um Shackleton und seine Leute zu treffen. Wenn sie das schaffte, bevor der Expeditionsleiter
sie fand, wäre sie in Sicherheit, dann könnte Mazursky nichts mehr ausrichten. Während der Reise hatte er ihnen ja selbst
gesagt, dass sie das Jahr 2000 nur als Zuschauer erleben konnten. Sie konnten sich den Bewohnern der Zukunft nicht zeigen
und sich schon gar nicht mit ihnen zusammentun. Sie musste also so schnell wie möglich den Hauptmann finden. Entschlossen
schritt Claire in die entgegengesetzte Richtung ihrer Reisegenossen, ohne dabei an die Folgen zu denken, die ihre unerwartete
Tat im Zeitgefüge auslösen konnte. Sie hoffte nur, in ihrem Streben nach Glück das Universum nicht zu zerstören.
Jetzt, da sie ganz allein war, wirkte die zerstörte Stadt um sie herum sehr viel beunruhigender. Was, wenn sie Shackleton
nicht fand?, fragte sie sich ängstlich. Doch es gab etwas, das sie noch mehr fürchtete: ihm zu begegnen. Was sollte sie ihm
sagen? Und wenn er sie zurückwies, sich weigerte, sie in seinen Reihen aufzunehmen? Daran glaubte sie nicht, denn kein Gentleman
würde in dieser entsetzlichen Zukunft eine Dame aus einer anderen Zeit ihrem Schicksal überlassen. Außerdem verfügte sie über
einige krankenpflegerische Kenntnisse, die ihm von Nutzen sein könnten, so leicht wie man hier verwundet werden konnte; und
sie war mutig und fleißig genug, um ihnen beim Wiederaufbau der Welt helfen zu können. Abgesehen davon natürlich, dass sie
in ihn verliebt war. Das aber würde sie so lange vor ihm geheim halten, bis sie sich selbst ganz sicher |347| war. Bisher handelte es sich lediglich um einen ebenso extravaganten wie beunruhigenden Gedanken. Sie schüttelte den Kopf.
Im Grunde, musste sie sich eingestehen, hatte sie nicht besonders gut geplant, was sie tun würde, wenn sie dem Hauptmann gegenüberstünde,
was auch daran gelegen hatte, dass sie von ihrem Fluchtplan nicht besonders überzeugt gewesen war. Sie würde eben improvisieren,
sagte sie sich, als sie mit gerafftem Rock den steilen Pfand hinuntereilte, der, wenn ihre Orientierung sie nicht trog, in
die Straße mündete, auf der der Hinterhalt stattgefunden hatte.
Als sie das Geräusch von Schritten hörte, erstarrte sie. Jemand kam ihr entgegen. Es waren eindeutig die Schritte eines Menschen,
dennoch ging Claire instinktiv hinter dem nächsten Steinhaufen in Deckung. Dort hielt sie den Atem an, obwohl ihr das Herz
in der Brust zu zerspringen drohte. Ganz in der Nähe hielten die Schritte inne. Claire fürchtete schon, der Mensch habe sie
entdeckt und würde sie gleich auffordern, mit erhobenen Armen hervorzukommen, oder, schlimmer noch, einfach nur mit dem Gewehr
auf den Steinhaufen zielen und abwarten. Stattdessen begann der Unbekannte zu singen:
Jack the Ripper is dead/lying in his bed/cutted his throat/with Sunlight-soap/Jack the Ripper is dead
. Claire zog die Augenbrauen hoch. Das Lied kannte sie. Ihr Vater hatte es von den Jungs aus dem East End gelernt und pflegte
es sonntags morgens vor dem Spiegel zu trällern, wenn er sich vor dem Kirchgang rasierte, weshalb Claire jetzt auch plötzlich
den Duft seiner schaumigen Rasierseife wahrzunehmen glaubte, die aus Pinienöl statt aus tierischem Fett gemacht war. Wenn
sie nur in ihre Zeit zurückkehren könnte, dann würde sie ihrem Vater berichten |348| können, dass sein Lieblingslied im Gegensatz zu fast allem anderen die ganzen Jahre überdauert hatte. Aber sie würde nicht
mehr in ihre Zeit zurückkehren, mochte da kommen, was wollte. Sie versuchte, nicht mehr daran zu denken und sich stattdessen
ganz auf den Augenblick zu konzentrieren, in dem ihr neues Leben beginnen würde. Der Unbekannte sang immer noch, und zwar
mit wachsender Lautstärke. Hatte er sich diese
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