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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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entlegene Stelle nur gesucht, um seine Stimme zu üben? Wie auch immer: Dies
     war der Moment, den Kontakt zu den Bewohnern des Jahres 2000 aufzunehmen. Sie biss die Zähne aufeinander, nahm all ihren Mut
     zusammen und trat hinter dem Geröllhaufen hervor, um sich dem Fremden vorzustellen, der da so sorglos eines ihrer Lieblingslieder
     misshandelte.
    Claire Haggerty und der tapfere Hauptmann Shackleton starrten einander wortlos an, in ihren Blicken spiegelte sich die Verblüffung
     des anderen wie in zwei sich gegenüberstehenden Spiegeln. Der Hauptmann hatte seinen Helm abgenommen und auf einem Mauerstück
     abgelegt, und Claire reichte ein kurzer Blick, um zu begreifen, dass er sich nicht von seinen Leuten entfernt hatte, um Gesangsübungen
     zu machen, sondern um einen sehr viel weniger erhabenen Akt zu vollziehen, bei dem der Gesang nur eine Begleiterscheinung
     war. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihr Mund ungläubig öffnete und ihr der Sonnenschirm englitt, der mit dem Geräusch
     eines Krebses, der zertreten wird, auf dem Boden landete. Immerhin war es das erste Mal, dass sich ihre wundervollen Augen
     auf jenen Teil des Mannes richteten, den sie eigentlich erst beim Vollzug der Ehe zu sehen bekommen sollten, und selbst dann
     wahrscheinlich nicht so klar und deutlich wie hier. Sie sah, wie Hauptmann |349| Shackleton, nachdem er sich von der ersten Überraschung erholt hatte, jenen unziemlichen Teil seiner Anatomie hastig zwischen
     den Ritzen der Rüstung verbarg, während sich seine Verlegenheit langsam in Neugier verwandelte. Claire hatte über gewisse
     körperliche Einzelheiten noch keine Vermutungen angestellt, aber das Gesicht von Hauptmann Derek Shackleton war genau so,
     wie sie es sich vorgestellt hatte. Entweder hatte sich der Schöpfer bei der Erschaffung dieses Mannes exakt an ihre Vorstellungen
     gehalten, oder aber er stammte von einem Affen ab, der einer höheren Rasse als seinesgleichen angehörte. Wie auch immer es
     war, Hauptmann Shackletons Gesicht war zweifellos das einer anderen Epoche. Er besaß das gleiche energische Kinn wie die Statue
     und die gleichen geschwungenen Lippen, und seine Augen, jetzt, da sie sie sehen konnte, harmonierten vollkommen mit dem Rest
     seiner Erscheinung. Wundervolle große Augen von einem grünlichen Grau wie ein von Nebeln durchwogter Wald, in dem sich jeder
     Wanderer verirren musste, schauten mit einem so lodernden Feuer auf die Welt, dass Claire sogleich begriff, dass sie einem
     Mann gegenüberstand, der lebendiger war als jeder, den sie bisher gesehen hatte. Ja, unter dieser eisernen Rüstung, unter
     dieser sonnengebräunten Haut, unter diesen wohlgeformten Muskeln schlug ein wildes Herz und pumpte durch das Geflecht der
     Adern ein unbändiges Leben, das nicht einmal der Tod hatte unterwerfen können.
    «Mein Name ist Claire Haggerty, Hauptmann», stellte sie sich mit einer leichten Verbeugung vor und hoffte, dass ihre Stimme
     nicht gezittert hatte. «Ich bin aus dem 19.   Jahrhundert gekommen, um Ihnen beim Wiederaufbau der Welt zu helfen.»
    |350| Hauptmann Shackleton betrachtete sie immer noch stumm mit diesen Augen, die London hatten fallen sehen, die vernichtenden
     Brände und Leichenberge, die grausamsten Seiten des Lebens, und die jetzt nicht wussten, wie sie dieses köstliche zarte Geschöpf
     einordnen sollten.
    «Miss Haggerty, da sind Sie ja!», vernahm sie eine Stimme hinter sich. Überrascht wandte Claire sich um und erkannte den Expeditionsleiter,
     der zu ihr herunterkam. Mazursky schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, konnte jedoch die Erleichterung nicht verbergen, sie endlich
     gefunden zu haben.
    «Ich habe Ihnen doch befohlen, zusammenzubleiben!», rief er mit schriller Stimme, als er neben ihr stand, rüde ihren Arm ergriff
     und sie mit sich fortzerren wollte. «Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn ich Ihr Verschwinden nicht bemerkt hätte   … Sie wären für immer hiergeblieben!»
    Claire wandte sich zu Shackleton um, damit er ihr helfe, doch zu ihrer Überraschung war der Hauptmann verschwunden. Als wäre
     er nur eine Fata Morgana gewesen. Es war ein so unvermitteltes Verschwinden, dass Claire, während Mazursky sie dahin zurückzerrte,
     wo die anderen auf sie warteten, sich unwillkürlich fragte, ob sie Shackleton wirklich gesehen hatte oder ob er nur ein Produkt
     ihrer überhitzten Phantasie gewesen war. Als sie die Gruppe erreichten, ließ Mazursky sie eine lange Linie bilden, setzte
     den

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