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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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wohlwollende Finger eines Kapitäns sie zum Entladen des frischen Fangs auswählte. Die
     Hände gegen die Kälte in den Jackentaschen vergraben, drängte Tom sich in die wartende Menge, in der er sogleich Patrick erkannte,
     einen großen, kräftigen Burschen, den der Zufall so oft beim Kistenschleppen an seine Seite gestellt hatte, dass ganz unbeabsichtigt
     eine vage Freundschaft zwischen ihnen entstanden war. Sie nickten einander aufmunternd zu und plusterten sich auf wie Täuberiche,
     um sich aus der Menge abzuheben und die Aufmerksamkeit eines Kapitäns auf sich zu lenken. Normalerweise wurden die beiden |377| wegen ihres ansprechenden Äußeren vom Fleck weg engagiert, und so geschah es auch an diesem Morgen. Sie beglückwünschten einander
     mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln und gingen mit einem Dutzend anderer Erwählter zum ersten zu entladenden Kutter.
    Tom gefiel diese schlichte, ehrliche Arbeit, die von ihm nicht mehr verlangte als ein paar kräftige Arme und schnelles Zupacken,
     weil er dabei nicht nur das herrliche Schauspiel des Sonnenaufgangs über der Themse betrachten konnte, sondern auch weil die
     körperliche Anstrengung belebend und beruhigend auf ihn wirkte und er seine Gedanken schweifen lassen konnte, die manchmal
     unerwartete Wege gingen. Das war ein bisschen so wie auf dem Hügel von Harrow, einer kleinen Anhöhe am Stadtrand, gekrönt
     von einer hundertjährigen Eiche, um die sich ein knappes Dutzend Grabsteine gruppierten, als wollten die Toten dort oben nichts
     mit denen zu tun haben, die sich unten auf dem benachbarten kleinen Friedhof drängten. Er hatte die Anhöhe auf einer seiner
     Wanderungen durch die Stadt entdeckt und auf diesem verschwiegenen grünen Fleck, den er als sein privates Heiligtum betrachtete,
     eine Art Freiluftkapelle, in der er vor dem Lärm der Großstadt Zuflucht fand. Dort gelang es ihm manchmal, Gedanken nachzuhängen,
     die ihm überraschenderweise den oft genug recht abstoßenden Sinn seines Daseins enthüllten. Er fragte sich dort zum Beispiel,
     was für ein Leben dieser John Peachey geführt haben mochte, der Bursche, der unter dem der Eiche am nächsten gelegenen Grabstein
     ruhte. Er konnte sich dann das eigene Dasein vorstellen, als wäre es gar nicht seines, und so entspannt darüber nachdenken,
     als rechne er mit dem anderen ab.
    |378| Als das Schiff entladen war, setzten sich Patrick und er auf ein paar Kisten und warteten auf ihren Lohn. Meistens verplauderten
     sie die Wartezeit, doch Tom war schon die ganze Woche mit dem Kopf woanders. Das war die Zeit, die seit seiner unseligen Begegnung
     mit Claire Haggerty vergangen war, und noch immer war nichts passiert. Anscheinend hatte Murray immer noch keinen Wind davon
     gekriegt und würde vielleicht auch nie etwas davon erfahren, dennoch würde sein Leben nicht mehr dasselbe sein. Tatsächlich
     war es das schon nicht mehr. Tom wusste zwar, dass London eine viel zu große Stadt war, um der Frau noch einmal zu begegnen,
     doch das enthob ihn nicht der Notwendigkeit, ständig die Augen offen zu halten, da er an jeder Straßenecke damit rechnete,
     mit ihr zusammenzustoßen. Nur diese dumme Kleine war schuld, dass es mit der Beschaulichkeit in seinem Leben jetzt vorbei
     war, dass er stets wachsam sein, sich vielleicht sogar einen Bart wachsen lassen musste. Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken,
     dass eine so winzige Kleinigkeit ein ganzes Leben verändern konnte. Warum zum Teufel hatte er seine Blase nicht vor der Vorstellung
     entleert?
    Als Patrick ihm schließlich in freundschaftlichem Ton das mürrische Schweigen vorwarf, das er sich in letzter Zeit angewöhnt
     hatte, schaute Tom ihn verwundert an. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich vor Patrick zu verstellen, und jetzt wusste
     er nicht, was er antworten sollte. Er begnügte sich damit, ihn mit einem halb rätselhaften, halb wehmütigen Lächeln zu beruhigen,
     woraufhin sein Kamerad sich achselzuckend abwandte und ihm damit zu verstehen gab, dass er keineswegs beabsichtigte, sich
     die Schuhe im Sumpf von Toms inneren Angelegenheiten |379| schmutzig zu machen. Nachdem sie ihren Lohn empfangen hatten, verließen sie den Hafen gemächlichen Schritts wie zwei, die
     den Rest das Tages nicht mehr viel zu tun haben. Tom fürchtete, mit seiner Zurückhaltung Patrick verletzt zu haben. Der Junge
     war zwar nur zwei Jahre jünger als er, aber sein kindliches Aussehen hatte Tom dazu veranlasst, ihn spontan unter seine Fittiche
    

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