Die Landkarte der Zeit
zu nehmen wie den kleinen Bruder, den er nie gehabt hatte, obwohl er sehr genau wusste, dass Patrick gut auf sich selbst aufpassen
konnte. Ob aus Bequemlichkeit oder Schüchternheit, keiner von ihnen hatte indes Wert darauf gelegt, ihre beginnende Freundschaft
auch jenseits des Hafens zu pflegen.
«Mit dem Geld von heute bin ich schon wieder ein Stück näher dran», sagte Patrick plötzlich mit einem träumerischen Ton in
der Stimme.
«An was?», fragte Tom interessiert, denn Patrick hatte nie etwas davon erzählt, ein Geschäft aufmachen oder heiraten zu wollen.
Der Junge warf ihm einen geheimnisvollen Blick zu.
«An meinem Traum», sagte er feierlich.
Es freute Tom, dass der Junge einen Traum hatte, der ihm half, nach vorn zu schauen; einen Grund, jeden Morgen aus dem Bett
zu steigen; etwas, an dem es ihm selbst in letzter Zeit mangelte.
«Was ist das für ein Traum, Patrick?», wollte er wissen, weil er dem Jungen ansah, dass er auf diese Frage nur wartete.
Patrick zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche und überreichte es ihm mit einer Verbeugung.
«Ins Jahr 2000 zu reisen und Zeuge zu sein, wie der |380| tapfere Hauptmann Shackleton die grausamen Maschinenmenschen besiegt.»
Tom machte sich nicht einmal die Mühe, das ihm nur allzu bekannte Papier auseinanderzufalten, sondern bedachte Patrick nur
mit einem traurigen Blick.
«Macht dich das Jahr 2000 denn gar nicht neugierig, Tom?», fragte dieser ungläubig.
Tom seufzte.
«In der Zukunft habe ich nichts verloren, Patrick», erwiderte er achselzuckend. «Die Gegenwart ist meine Zeit, mehr brauche
ich nicht zu kennen.»
«Tja», murmelte Patrick, wagte jedoch nicht, Toms begrenzte Sicht zu kritisieren.
«Hast du gefrühstückt?», fragte ihn Tom.
«Natürlich nicht!», rief der Junge empört. «Ich habe dir doch gesagt, dass ich spare. Frühstücken ist ein Luxus, den ich mir
nicht leisten kann.»
«Dann lass dich von mir einladen», schlug Tom vor und legte ihm den Arm um die Schulter. «Ich kenne hier in der Nähe einen
Laden, da machen sie die besten Würstchen von ganz London.»
|381| XXV
Nach dem reichlichen Frühstück, das sie sich geleistet hatten, einem wahren Festmahl, das ihre Bäuche für den Rest der Woche
gesättigt hielt, waren Toms Taschen wieder leer. Tom versuchte, wegen der für Patrick getätigten Ausgaben kein schlechtes
Gewissen zu haben. Sie waren unvermeidlich gewesen, aber beim nächsten Mal musste er bedachtsamer vorgehen. Seine Großzügigkeit
gab ihm zwar ein gutes Gefühl, doch er wusste nur zu gut, dass solche selbstlosen Gesten ihm auf die Dauer schadeten. Er verabschiedete
sich von Patrick, und da er nichts Besseres vorhatte, richtete er seine Schritte nach Covent Garden, wo er sein mildtätiges
Tun fortsetzen und für Mrs. Ritter ein paar Äpfel stehlen konnte.
Als er den Markt am späten Vormittag erreichte, waren die frischesten Waren längst in den Einkaufstaschen der frühen Kunden
verschwunden, die aus allen Ecken Londons kamen, um hier ihre Speisekammern zu versorgen. Auf der anderen Seite hatte die
fortgeschrittene Stunde dem Markt seine unwirkliche Atmosphäre im Licht der zahllosen, auf Gebirgen von herabgetropftem Wachs
stehenden Kerzen genommen, die die Karren der Händler beleuchteten, solange es noch dunkel war. Jetzt wirkte der Markt wie
ein ländliches Picknick, und seine Besucher |382| waren keine huschenden Schatten mehr, sondern unbekümmerte Müßiggänger, die den ganzen Tag Zeit hatten, ihre Käufe zu tätigen
und sich, wie Tom, von den Düften der Rosen, Weinrosen und Fuchsien betören zu lassen, die den Blumenkörben am westlichen
Ende des Marktplatzes entströmten. Sich in der Menge treiben lassend, die zwischen dem sich über Bow Street und Maiden Lane
hinziehenden bunten Gewirr der Stände mit Kartoffeln, Möhren und Kohlköpfen umherschlenderte, versuchte Tom eines der Mädchen
zu lokalisieren, die mit ihren Apfelkörben zwischen den Marktständen herumliefen und mit Cockney-Akzent ihre Ware anpriesen.
Er streckte den Hals und glaubte eine der Apfelverkäuferinnen hinter einer Menschentraube entdeckt zu haben. Um sie nicht
aus den Augen zu verlieren, wirbelte er herum und versuchte, die menschliche Mauer zu umgehen, die ihm den Weg versperrte.
Doch ein Körpereinsatz, der Hauptmann Shackleton in einer Schlacht vielleicht das Leben gerettet hätte, war auf einem so überlaufenen
Markt wie dem von Covent Garden geradezu
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