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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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deprimierend, aber so war es. Einmal diese wunderschöne Frau zu besitzen bedeutete ihm mehr als alles, was ihn auf den verschlungenen
     Wegen seiner unseligen Zukunft noch erwarten mochte. Rein verstandesmäßig wäre das einzig Logische natürlich, nicht zu der
     Verabredung zu gehen und sich Probleme zu ersparen. Obwohl: Das enthob ihn nicht der Notwendigkeit, sich mit dem Mädchen an
     einer anderen Stelle zu treffen, ihr zu erklären, was er im 19.   Jahrhundert verloren hatte, und sogar noch eine Ausrede zu erfinden, warum er die erste Verabredung nicht eingehalten hatte.
     Nein, nicht hingehen löste das Problem offenbar nicht. Einzig Erfolg versprechend, schien ihm, war genau das Gegenteil: in
     den Teesalon gehen und sich etwas einfallen lassen, das weitere Erklärungen unnötig machte, falls sie sich in Zukunft öfter
     sehen sollten; einen Grund, damit sie ihm nicht mehr nahe kam, ihn nicht einmal mehr ansprach, sagte er sich, von neuer Begeisterung
     beflügelt, als sei das die wichtigste Voraussetzung, sie wiederzusehen, wobei niedrigere Beweggründe ausgeschlossen blieben.
     Recht besehen konnte dieses Treffen langfristig sogar von Vorteil für ihn sein. Ja, damit könnte er die Angelegenheit ein
     für alle Mal erledigen. Denn eines war klar: Dies würde das erste und einzige Treffen bleiben. Eine andere Wahl hatte er nicht.
     Er konnte sich die Kleine nur unter der einen Bedingung zu Gemüte führen, dass jede weitere Begegnung auf befriedigende Weise
     ausgeschlossen, jede Beziehung, die möglicherweise zwischen ihnen entstand, abgebrochen wurde; denn eine solche geheim zu
     halten, vor den Tausenden von Spitzeln, die Murray zweifellos in der ganzen Stadt verteilt hatte, zu verbergen erschien ihm
     unmöglich. Nicht nur er selbst, sondern auch das Mädchen |389| würde dadurch in Gefahr gebracht. Die Verabredung mit ihr kam ihm daher wie eine Henkersmahlzeit vor, und er war entschlossen,
     sie bis zur Neige auszukosten.
    Als es Zeit war, stand er auf, nahm den Sonnenschirm, setzte sich die Mütze auf und verließ die Pension. Auf der Straße blieb
     er, einer Eingebung folgend, am Stand von Mrs.   Ritter stehen.
    «Guten Tag, Tom», begrüßte ihn die alte Frau.
    «Mrs.   Ritter», sagte er und streckte ihr feierlich die rechte Handfläche hin, «ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen, dass wir
     beide meine Zukunft kennenlernen.»
    Die alte Frau sah ihn erstaunt an, ergriff aber sogleich Toms Hand und fuhr mit ihrem vertrockneten Zeigefinger langsam über
     die Handlinien, wie ein Leser mit dem Finger den Zeilen eines Buches folgt.
    «Mein Gott, Tom!» Sie erschauerte und warf einen ebenso unheilvollen wie verwunderten Blick zu ihm hinauf. «Was lese ich hier   … Du wirst sterben!»
    Mit einem resignierten Lächeln, doch haltungsvoll akzeptierte Tom die düstere Prophezeiung und entzog der Alten behutsam die
     Hand. Gut, damit hatten sich seine Ahnungen bestätigt. Er würde sterben, weil er einer Dame aus vornehmem Hause an die Wäsche
     gegangen war. Das also war sein triebgesteuertes Schicksal. Achselzuckend verabschiedete er sich von der besorgt dreinschauenden
     Mrs.   Ritter, die sich möglicherweise dafür verantwortlich fühlte, dass das Leben diesem jungen Mann kein besseres Schicksal zugedacht
     hatte. Er würde also sterben; doch konnte man seinen jetzigen Zustand Leben nennen? Er lächelte und schritt schneller aus.
    Noch nie hatte er sich lebendiger gefühlt als jetzt.

|390| XXVI
    Als er zum Teesalon kam, war Claire bereits dort. Sie saß an einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Saals neben einem großen
     Fenster, durch welches das Abendlicht sich über ihr Haar ergoss. Tom betrachtete sie voller Entzücken vom Eingang und genoss
     die Gewissheit, dass er es war, auf den sie wartete. Wieder rührte ihn ihre zarte Gestalt, die einen so aufregenden Gegensatz
     bildete zu ihren energischen Bewegungen und dem wachen Blick, und in seinem Innern, diesem Ödland, das für immer vertrocknet
     schien, fühlte er ein lustvolles Kribbeln, einen Hinweis darauf, dass er innerlich noch nicht gänzlich tot, zu Gefühlsregungen
     noch imstande war. Er hielt den Sonnenschirm fest in seiner schweißfeuchten Hand und ging zwischen den Tischen in ihre Richtung,
     entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um diesen Körper am Ende des Tages in seinen Armen zu halten.
    «Verzeihen Sie, Sir», sprach ihn in diesem Augenblick eine junge Dame an, die gerade das Lokal verließ.

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