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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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am wenigsten geraten
     scheinen ließ.
    «Aber ich kann ihn Ihnen heute Nachmittag bringen», schlug er vor, «zur Aerated Bread Company, ganz in der Nähe der Metrostation
     Charing Cross, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, dort einen Tee mit mir zu trinken.»
    Claire strahlte.
    «Aber selbstverständlich, Hauptmann», rief sie begeistert. «Ich werde da sein.»
    Tom nickte mit einem jeder Lüsternheit entblößten Lächeln und konnte noch immer nicht glauben, dass sie eingewilligt hatte;
     ebenso wenig aber, dass er sich ausgerechnet mit der Frau verabredet hatte, der er fernbleiben musste, wenn er am Leben bleiben
     wollte. Aber sein Leben bedeutete ihm offensichtlich wenig, wenn er bereit war, es für eine Nummer mit diesem Schätzchen aufs
     Spiel zu setzen. In diesem Augenblick hörten sie beide, dass jemand Claires Namen rief. Eine blonde junge Dame kämpfte sich
     durch die Menge, um zu ihnen zu gelangen.
    «Das ist meine Freundin Lucy», bemerkte Claire mit belustigtem Verdruss, «die mich keine Minute aus den Augen lässt.»
    «Sagen Sie ihr bitte nicht, dass ich aus der Zukunft komme», |386| sagte Tom drängend und wieder etwas zu Verstand kommend. «Ich bin incognito hier. Wenn man mich entdeckt, bekomme ich eine
     Menge Schwierigkeiten.»
    Claire schaute ihn besorgt an.
    «Ich erwarte Sie um sechs zum Tee», verabschiedete sich Tom hastig. «Aber versprechen Sie mir bitte, dass Sie allein kommen.»
    Wie vermutet, zögerte Claire keinen Moment, ihm dieses Versprechen zu geben. Obwohl Toms Lebensumstände ihm nie erlaubt hatten,
     den Teesalon der ABC jemals zu betreten, wusste er, dass dieser seit dem Tag der Eröffnung zum Modetreffpunkt geworden war,
     da es in ganz London keinen anderen Ort gab, an dem sich die Jugend ohne störende Erwachsenenbegleitung treffen konnte. Wie
     er gehört hatte, verfügte er über große geheizte Räumlichkeiten, in denen man für wenig Geld zwei Tassen Tee und Gebäck bekam,
     sodass er von Anfang an die vollkommene Alternative zu den Spaziergängen im Freien und Treffen im Familiensalon wurde, zu
     denen junge Pärchen bis dahin ihre Zuflucht nehmen mussten. Der Teesalon war zwar von außen vollständig einsehbar, aber ein
     anderer Ort, zu dem die junge Dame ohne Vorbehalt allein kommen konnte, war ihm nicht eingefallen.
    Als Lucy ihre Freundin erreichte, war Tom bereits in der Menge verschwunden. Das hielt sie natürlich nicht davon ab, Claire
     zu fragen, wer der unbekannte Mann gewesen war, mit dem sie sich unterhalten hatte. Claire schüttelte nur geheimnisvoll den
     Kopf. Wie erwartet, vergaß Lucy die Angelegenheit sogleich und zog sie zu einem Blumenstand, wo sie sich mit Heliotropen eindeckten,
     die in ihren Zimmern den wilden Duft ferner Dschungel verbreiten sollten. |387| Und während Claire sich von der Freundin über den Markt zerren ließ, dachte sie, dass eine Reise durch die Zeit, um ihr einen
     Sonnenschirm zurückzubringen, die ritterlichste Tat war, die ein Mensch je für sie begangen hatte. Tom Blunt floh unterdessen
     in der entgegengesetzten Richtung aus Covent Garden, bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge und versuchte,
     nicht an den armen Perkins zu denken.
     
    Er sank auf das Bett seiner elenden Kammer, als wäre aus nächster Nähe ein Schuss auf ihn abgefeuert worden. Dort lag er nun
     und verfluchte sein aberwitziges Verhalten immer noch mit demselben unverständlichen Gebrabbel eines Betrunkenen, wie er es
     auf dem gesamten Heimweg getan hatte. War er eigentlich wahnsinnig? Was zum Teufel versprach er sich von einer neuerlichen
     Begegnung mit der Kleinen? Nun, die letzte Frage war leicht zu beantworten. Was er suchte, war recht offensichtlich und bestand
     mit Sicherheit nicht darin, die schöne Claire ein paar Stunden lang wie ein unerreichbares Juwel in einem Schaufenster anzuschmachten
     und sich innerlich damit zu quälen, dass er sie niemals würde besitzen können. Weiß Gott nicht. Er würde es auszunutzen wissen,
     dass sich die Kleine in sein anderes Ich, das des tapferen Hauptmanns Derek Shackleton, verliebt hatte, um ein sehr viel höheres
     Ziel zu erreichen. Er wunderte sich, dass er für diesen kurzen Genuss bereit war, die unheilvollen Konsequenzen in Kauf zu
     nehmen, die er nach solch einer unvernünftigen Tat zu tragen hätte und zu denen wahrscheinlich gehörte, dass er sein Leben
     verlor. War ihm sein Leben so wenig wert?, fragte er sich ein weiteres Mal. Ja, es klang wirklich |388|

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