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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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eine Tollkühnheit. Das erkannte er, als er die junge Frau umrannte, die bedenklich
     zu schwanken begann und um ihr Gleichgewicht kämpfte, um nicht hinzufallen. Tom blieb stehen und drehte sich zu ihr, um sie
     in aller Form um Verzeihung zu bitten. Und dann stand er dem einzigen Menschen in ganz London gegenüber, dem er unter keinen
     Umständen begegnen wollte. Die Welt kam ihm vor wie ein rätselhaftes Dorf, voll mit Überraschungen wie der Zylinder eines
     Bühnenzauberers.
    «Hauptmann Shackleton, was machen Sie denn in meiner Zeit?», fragte Claire Haggerty verblüfft.
    Ohne jede trennende Distanz traf Tom diesmal der verzückte |383| Blick, den seine bloße Anwesenheit bei dem Mädchen zu entfesseln schien, und er konnte sogar das Blau ihrer Augen aufnehmen,
     ein tiefes, stürmisches Blau, das er nirgends in der Welt noch einmal finden würde, soviel Meer und Himmel er auch erblicken
     mochte; ein loderndes, reines Blau, das vielleicht zu den Farben gehörte, die der Schöpfer für das Paradies vorgesehen hatte,
     und das sie jetzt in ihrer Iris hütete, damit es nicht verlorenging. Erst als es ihm gelang, sich dem Zauber ihres Blicks
     zu entziehen, begriff Tom, dass ihm dieses zufällige Zusammentreffen das Leben kosten konnte. Er warf einen raschen Blick
     in die Runde, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn argwöhnisch musterte, doch war er viel zu durcheinander, um etwas
     aufzunehmen. Er wandte sich wieder der jungen Dame zu, die ihn immer noch ungläubig und wie entrückt anschaute und offensichtlich
     darauf wartete, dass er seine Anwesenheit erklärte. Aber was konnte er ihr sagen, ohne die Wahrheit zu enthüllen und damit
     sein Todesurteil zu unterzeichnen?
    «Ich bin durch die Zeit gereist, um Ihnen den Sonnenschirm zurückzubringen», improvisierte er.
    Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, biss er sich auf die Lippen. Lächerlicher ging es nicht mehr; aber es war das Erste,
     was ihm eingefallen war. Claire riss die wundervollen Augen noch weiter auf, und Tom bereitete sich auf das Schlimmste vor.
    «Oh, da danke ich Ihnen aber», sagte Claire zu seiner Überraschung; sie fühlte sich offenkundig geschmeichelt, «das wäre doch
     nicht nötig gewesen. Sie sehen ja, ich habe schon einen neuen», und sie zeigte ihm einen Sonnenschirm, ganz ähnlich dem, den
     er in der Schublade seiner |384| Kommode aufbewahrte. «Aber da Sie schon durch die Zeit gereist sind, um ihn mir zurückzubringen, verspreche ich Ihnen, ihn
     wieder zu benutzen und diesen auszumustern.»
    Diesmal war es an Tom, ungläubig dreinzuschauen. Die Kleine hatte ihm jedes Wort geglaubt und nicht den geringsten Verdacht
     geschöpft. Andererseits: War das verwunderlich? Die Pantomime, die Murray aufgezogen hatte, war einfach zu gut, als dass ein
     so junges Ding sie in Frage stellen würde. Claire hatte fest daran geglaubt, ins Jahr 2000 zu reisen, und dieser Glaube legitimierte
     ihn als Zeitreisenden. So einfach war das. Als er aus dem Staunen wieder herauskam, bemerkte er, dass sie seine leeren Hände
     betrachtete, weil sie sich vielleicht fragte, wo der Sonnenschirm denn wohl sein mochte, dessentwegen er sich zu dieser Heldentat
     aufgeschwungen hatte und durch ein ganzes Jahrhundert gereist war, nur um ihn ihr zurückzugeben.
    «Ich habe ihn jetzt nicht bei mir», sagte er entschuldigend, hilflos die Achseln zuckend.
    Sie wartete darauf, dass er eine Lösung anbot, und in der plötzlichen Stille, die sie mitten im lärmenden Marktgeschehen gefangen
     hielt, nahm er den schlanken, wohlgeformten Körper wahr, der sich unter dem Kleid des Mädchens abzeichnete und ihm schmerzhaft
     bewusstmachte, wie lange er nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen war. Seit er Megan zu Grabe getragen hatte, war ihm
     nur die bezahlte Zärtlichkeit der Huren zuteilgeworden, und in letzter Zeit auch die nicht mehr, weil er nun glaubte, hart
     genug geworden zu sein, um auch der Liebe aus zweiter Hand nicht mehr zu bedürfen. Das hatte er jedenfalls |385| gedacht. Und jetzt stand eine wunderschöne vornehme Dame vor ihm, wie sie sich ein Typ wie er niemals erhoffen konnte; aber
     auch eine Frau, die ihn anschaute, wie ihn noch nie zuvor eine Frau angeschaut hatte. War dieser Blick vielleicht der Tunnel,
     der es ihm ermöglichte, der unüberwindlichen Festung zu entrinnen? Solange die Welt bestand, hatten Männer für sehr viel weniger
     ihren Kopf riskiert. Dem atavistischen Appetit seiner Spezies folgend, tat Tom, was ihm sein Verstand

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