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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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vorbeiziehen würde, ohne dass sie dem nachtrauerte. Dieses ungerechte
     Schicksal, zu dem er beigetragen oder das er vielmehr inszeniert hatte, belastete zwar sein Gewissen, aber er fand auch keinen
     Weg, die Dinge zu ändern, ohne alles nur noch schlimmer zu machen. Sein einziger Trost war, dass Claire ihm in einem ihrer
     Briefe geschrieben hatte, sie würde glücklich sterben. Und das war letzten Endes vielleicht das Einzige, was zählte. |495| Wahrscheinlich würde es sie glücklicher machen, ihr Leben in diesem unmöglichen Idyll zu verbringen, als mit einem ihrer langweiligen
     Verehrer verheiratet zu sein. Die Tatsache, dass sie ihr Glück einer Lüge verdankte, wäre irrelevant, wenn sie sie nie entdeckte,
     nie erführe, dass sie hintergangen worden war, ihre Tage in dem Glauben beschlösse, Hauptmann Derek Shackleton geliebt zu
     haben und von ihm geliebt worden zu sein.
    Dann dachte Tom darüber nach, wie es mit ihm selbst weitergehen sollte. Indem er sich versteckt gehalten und oft genug unter
     freiem Himmel geschlafen hatte, war er bislang mit dem Leben davongekommen und hatte das von Claire gerettet, so wie er es
     sich vorgenommen hatte. Jetzt war er bereit zu sterben, sehnte den Tod sogar herbei, denn ihm würde auf der Welt nichts anderes
     bleiben, als weiter in Löchern zu hausen und dahinzuvegetieren, was ihm jetzt entsetzlich mühsam und sinnentleert vorkam und
     mit der Erinnerung an Claire im Herzen noch sehr viel schmerzlicher würde. Andererseits waren zwölf Tage vergangen, seit er
     sich mit dem Mädchen im Teesalon verabredet hatte, wo ganz London sie hatte sehen können, und der von Gilliam gedungene Mörder
     hatte ihn bisher noch nicht aufgespürt. Auch auf Salomon konnte er nicht zählen, der offenbar lieber in seiner Traumwelt blieb.
     Aber irgendjemand musste ihn umbringen, sonst würde er vor Hunger sterben. Musste er es seinem Henker einfacher machen? Noch
     etwas kam hinzu: In zwölf Tagen würde die dritte Reise ins Jahr 2000 stattfinden, und bald würden die Proben dazu beginnen.
     Wartete Gilliam etwa darauf, dass er in die Greek Street kam, damit er ihn dort eigenhändig umbringen konnte? Zum ersten Probentag
     zu erscheinen |496| käme einem Selbstmord gleich; doch Tom wusste, dass er es trotzdem tun würde, um endlich herauszufinden, was das Schicksal
     mit ihm vorhatte.
    In diesem Augenblick hämmerte jemand gegen seine Zimmertür. Tom sprang auf die Beine, machte aber keinen Versuch, die Tür
     zu öffnen. Auf alles gefasst, blieb er mit angespannten Muskeln mitten im Zimmerchen stehen. Hatte jetzt sein Stündlein geschlagen?
     Sekunden später erneutes Hämmern. Dann eine Stimme:
    «Bist du dadrinnen, Tom? Mach auf, du fauler Sack, sonst muss ich die Tür eintreten.»
    Tom erkannte Jeff Waynes Stimme sofort. Er steckte Wells’ Buch in die Tasche und öffnete missmutig die Tür. Jeff stürzte herein
     und umarmte ihn wie ein Schraubstock, Bradley und Mike grüßten von der Türschwelle her.
    «Wo hast du die ganzen Tage gesteckt, Tom? Die Jungs und ich haben dich überall gesucht. Weibergeschichten? Na egal, wir haben
     dich gerade noch rechtzeitig gefunden. Heute Abend wird ganz groß gefeiert; Mike gibt einen aus.» Sein Kumpel zeigte auf den
     Riesen, der gedankenverloren an der Tür stand.
    Den wirren Erklärungen Jeffs entnahm Tom, dass Mike vor ein paar Tagen einen Sonderauftrag von Murray bekommen hatte. Er hatte
     niemand Geringeren als Jack the Ripper spielen müssen; das Ungeheuer, das im Herbst 1888 in Whitechapel fünf Prostituierte
     umgebracht hatte.
    «Einige sind geboren, um Helden zu spielen, und andere   …», sagte Jeff, spöttisch die Schultern zuckend. «Es war jedenfalls eine Hauptrolle, und die muss gefeiert werden, meinst
     du nicht?»
    Tom nickte. Was sollte er sonst tun? Der Plan, der eindeutig |497| nicht von Mike Spurrell stammte, sondern von Jeff, der nichts lieber tat, als das Geld der anderen auf den Kopf zu hauen,
     behagte Tom zwar überhaupt nicht, aber er fühlte sich zu schwach, um sich ihm zu widersetzen. Die Treppe hinunter und bis
     zur nächsten Kneipe mussten sie ihn fast schieben, aber die dampfenden Schüsseln mit Bratwürsten und Steaks auf dem reservierten
     Tisch ließen seinen Widerstand schnell dahinschmelzen. Die Gesellschaft mochte ihm nicht behagen, doch sein Magen würde es
     ihm nie verzeihen, wenn er jetzt nicht zulangte. Lachend setzten sich die vier zu Tisch und machten sich wie Wölfe über das
     Essen her,

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