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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Taucheranzug, Tom.»
    Das Gesicht lag zwar noch immer im Schatten, aber Tom |517| hatte die Stimme von Martin Tucker erkannt, und eine Welle überbordender Freude durchflutete ihn.
    «Hast du noch nie so einen gesehen? Damit kannst du unter Wasser gehen, als ob du durch einen Park spazierst. Luft bekommst
     du durch einen Schlauch, der oben an einen Kompressor angeschlossen ist. Bob hat ihn bedient und uns beide auch heraufgezogen»,
     erklärte er seinem Freund und deutete auf jemand, der sich außerhalb von Toms Blickfeld befand. Nachdem er den Taucherhelm
     abgelegt hatte, hob Martin Toms Kopf behutsam wie eine Krankenschwester hoch und musterte ihn ausgiebig. «Du siehst ganz schön
     zerschlagen aus, mein Lieber. Die Jungs haben dich nicht geschont, aber nimm’s ihnen nicht übel. Es musste alles so glaubwürdig
     wie nur möglich wirken, wenn wir Gilliam wirklich austricksen wollten. Ich glaube, es ist uns gelungen. In seinen Augen haben
     die Jungs ihre Arbeit getan, und jetzt sind sie wohl gerade dabei, den Lohn zu kassieren.»
    Trotz seines geschwollenen Gesichts versuchte sich Tom an einer überraschten Miene. Dann war das Ganze nur eine Farce gewesen?
     Offensichtlich. Seine Kumpels waren also doch nicht ganz so niederträchtig, wie Murray geglaubt hatte, wenngleich ihr chronischer
     Geldmangel sie nicht davor hatte zurückschrecken lassen, auf sein Angebot einzugehen. Mit etwas Intelligenz könne man beides
     erreichen, hatte ihnen Martin Tucker wahrscheinlich gesagt, der ihm jetzt das blutverschmierte Haar aus der Stirn strich und
     ihn mit väterlicher Zuneigung betrachtete.
    «Tja, Tom, die Show ist vorbei», sagte er. «Jetzt, da du offiziell tot bist, bist du frei. Dein neues Leben beginnt heute
     Nacht, mein Freund. Mach das Beste daraus; obwohl ich schon weiß, was du tun wirst.»
    |518| Er drückte ihm zum Abschied die Schulter, nahm den Taucherhelm auf, lächelte ihm ein letztes Mal zu und verließ den Kai mit
     in der Nacht verhallenden Eisenschritten. Nachdem er gegangen war, blieb Tom auf der Erde liegen, hatte überhaupt keine Eile,
     aufzustehen, und überdachte noch einmal die letzten Ereignisse. Er pumpte die klare Nachtluft tief in seine schmerzenden Lungen
     und betrachtete den Himmel über sich. Ein herrlicher blassgelber Vollmond beschien die Nacht. Er lächelte ihm zu und stellte
     sich ihn als bleichen Totenschädel vor, wie er ihm selbst vorerst erspart bleiben würde, obgleich er tot auf dem Grund der
     Themse ruhte. Er hatte zwar keine Kraft, und der ganze Körper schmerzte, aber er lebte, lebte, lebte! Eine wilde Freude durchströmte
     ihn und brachte ihn endlich dazu aufzustehen, bevor der kalte Boden und die nasse Kleidung sich verbündeten und ihm eine Lungenentzündung
     bescherten. Mühsam kam er auf die Beine und humpelte aus dem Hafen. Ihm schmerzte zwar jeder Knochen im Leib, aber gebrochen
     schien nichts.
    Er schaute sich um. Keine Menschenseele weit und breit. Am Eingang der Sackgasse fand er Claires gelbe Blüte, die noch neben
     Wells’ Roman lag. Er nahm sie vorsichtig auf und legte sie in seine Handfläche wie einen Kompass, der ihm die Richtung weisen
     sollte.
     
    Der Duft der Narzissen war süß, Erinnerung beschwörend, dem des Jasmins nicht unähnlich, und er führte ihn sanft durch das
     Labyrinth der Nacht, zerrte sacht an ihm wie die zurückflutenden Wellen eines Strandes, zog ihn zu dem hübschen, von Stille
     umgebenen Haus. Der Zaun davor war nicht allzu hoch, und das Efeu, welches sich wie |519| Schmuckwerk an der Fassade emporrankte, schien dem einzigen Zweck zu dienen, dem Wagemutigen den Zugang zum Fenster des Mädchens
     zu erleichtern, das in dem Bett schlief, in dem es keinen Platz für Träume mehr gab.
    Voller Zärtlichkeit betrachtete Tom das Mädchen, das ihn liebte, wie kein Mensch ihn jemals geliebt hatte. Ihren leicht geöffneten
     Lippen entwichen zarte Seufzer, als wehe in ihrem Inneren ein sanfter Sommerwind. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Blatt
     Papier, auf dem er Wells’ zierliche Schrift erkannte. Er wollte sie gerade mit einem zärtlichen Kuss überraschen, als sie
     langsam die Augen aufschlug, als wäre sie vom Gewicht seines Blicks auf ihren Körper erwacht. Sie schien gar nicht erschrocken,
     als sie ihn an ihrem Bett stehen sah; als hätte sie damit gerechnet, dass er früher oder später, dem Duft ihrer Narzissen
     folgend, dort erschien.
    «Du bist gekommen», murmelte sie.
    «Ja, Claire, ich bin gekommen»,

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