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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Meter siebzig groß, schwacher Knochenbau, wenig Unterhautfettgewebe, kaum ausgebildete Muskulatur, blasse Hautfarbe, die vorderen
     Zähne sind vollständig, doch fehlen einige Backenzähne, die meisten Zähne sind kariös und weisen einen fleckigen Belag auf.»
    Nach diesem Bericht wartete er ein paar Sekunden, dass |528| der Inspektor seine Aufmerksamkeit von der Zimmerdecke auf den Toten lenken möge, und als das nicht geschah, legte er etwas
     mehr Begeisterung in seine Stimme:
    «Und dies ist seine Wunde.»
    Garrett holte tief Luft, senkte seinen Blick langsam zur Leiche hinunter und betrachtete aufmerksam das riesige Loch in der
     Brust.
    «Es handelt sich um eine rundliche Öffnung von dreißig Zentimetern Durchmesser», zeigte ihm der Arzt, «die durch den ganzen
     Körper geht, sodass man wie durch ein Fenster hindurchsehen kann. Wenn Sie sich über den Leichnam beugen, können Sie das leicht
     feststellen.»
    Lustlos beugte sich Garrett über das ungewöhnliche Loch und konnte tatsächlich die Marmorplatte des Tisches sehen, auf dem
     die Leiche lag.
    «Was immer diese Wunde verursacht hat, es hat nicht nur die Wundränder versengt, sondern auch alles mit sich gerissen, was
     ihm in den Weg kam: Teile des Brustbeins, der Rippenknorpel, des Bauchfells, der Lungen, die meisten Rippen, die rechte Herzklappe
     und das entsprechende Stück der Wirbelsäule. Das wenige, was übrig geblieben ist, wie zum Beispiel ein paar Lungenfetzen,
     ist mit der Brustwand verschmolzen. Ich habe zwar noch keine Autopsie vorgenommen, aber dieses Loch hat eindeutig den Tod
     herbeigeführt» – diktierte der Gerichtsarzt   –, «und verdammt will ich sein, wenn ich auch nur ahnte, wodurch es verursacht wurde. Es sieht aus, als wäre der Körper dieses
     Unglücklichen von einem Flammenschwert wie dem des Erzengels Michael durchbohrt worden.»
    Garrett, der mit seinem zuckenden Magen kämpfte, nickte.
    |529| «Weist der Körper sonst noch irgendwelche Anormalitäten auf?», fragte er, um etwas zu sagen, und merkte, wie ihm der Schweiß
     auf die Stirn trat.
    «Die Vorhaut ist etwas kürzer als gewöhnlich und bedeckt nur den Rand der Eichel, weist aber nirgendwo eine Narbe auf», antwortete
     der Arzt mit selbstgewisser Professionalität. «Davon abgesehen, besteht die einzige Anormalität in diesem verfluchten Loch,
     durch das man ein Karnickel springen lassen könnte.»
    Garrett nickte, angewidert von dem Vergleich des Gerichtsmediziners und dem Gefühl, vom Innenleben des armen Toten jetzt mehr
     zu wissen, als für seine Ermittlungen erforderlich gewesen wäre.
    «Vielen Dank, Doktor. Benachrichtigen Sie mich unverzüglich, sobald Sie etwas Neues entdecken oder vielleicht sogar herausfinden,
     was dieses Loch verursacht haben könnte.»
    Dann verabschiedete er sich hastig und verließ das Leichenschauhaus in so aufrechter Haltung wie möglich. Draußen bog er in
     die nächstgelegene Gasse und erbrach sein Frühstück hinter einem Abfallhaufen. Sich mit einem Taschentuch den Mund abwischend,
     trat er wieder auf die Straße, noch immer bleich, aber hellwach. Er sog die frische Luft in tiefen Zügen ein und stieß sie
     langsam wieder aus. Dabei spielte ein versonnenes Lächeln um seine Lippen. Das versengte Fleisch. Das riesige Loch. Kein Wunder,
     dass der Gerichtsarzt keine Waffe kannte, die solche Wunden schlug. Aber er kannte sie.
    Er hatte sie im Jahr 2000 in den Händen des tapferen Hauptmanns Shackleton gesehen.
     
    |530| Es dauerte fast zwei Stunden, seinen Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass er ihm einen Haftbefehl für einen Mann ausstellen
     müsse, der noch gar nicht geboren war. Er schluckte, als er vor dessen Bürotür stand, denn er wusste, es würde nicht einfach
     werden. Superintendent Thomas Arnold war ein Busenfreund seines Onkels und hatte ihn wohlwollend in seinen Ermittlerhaufen
     aufgenommen, ohne ihm jedoch mehr als distanzierte Freundlichkeit entgegenzubringen, abgesehen von gelegentlich aufkeimendem
     väterlichem Stolz, wenn Garrett wieder einmal einen komplizierten Fall gelöst hatte. Als der junge Inspektor das Zimmer betrat
     und seinen Vorgesetzten konzentriert an seinem Schreibtisch bei der Arbeit sah, hatte er den Eindruck, der Superintendent
     lächle mit derselben diskreten Zufriedenheit, wie er es auch abends vor einem gemütlichen Kaminfeuer tun mochte.
    Dieses leutselige Lächeln verschwand allerdings aus seinem Gesicht, als Garrett ihm nach seiner Rückkehr von der Reise ins
    

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