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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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dessen erfasst, der weiß, dass sein Leben nicht mehr in seiner Hand liegt. Gilliam trat zu ihm und drückte seine Schulter.
    «Leb wohl, Tom. Du bist der beste Shackleton gewesen, den ich finden konnte; aber so ist das Leben. Grüß Perkins von mir.»
    Seine Kollegen schwangen ihn hin und her und warfen ihn, zusammen mit dem Stein, bei drei ins Wasser. Tom konnte gerade noch
     tief Luft holen, bevor er aufs Wasser schlug. Die Kälte überraschte ihn und vertrieb alle Benommenheit. Ein Witz des Schicksals.
     Was nützte es ihm, jetzt vollkommen wach zu sein, da er nur noch ertrinken konnte! Zuerst sank er horizontal, doch dann zog
     ihn der schwere Stein in die Tiefe, und er begann mit den Füßen voran erstaunlich schnell auf den Grund der Themse zu sinken.
     Er blinzelte heftig, um im grünlichen Wasser etwas erkennen zu können, doch viel zu sehen gab es da nicht. Die Bäuche der
     Barkassen, die über ihm schwammen, und der schwächer werdende Lichtkreis, den die einzige Laterne am Kai auf das Wasser warf.
     Bald stieß der Stein auf Grund, und Tom schwebte eine Seillänge von zwanzig oder dreißig Zentimetern über ihm wie der Winddrachen
     eines Kindes in der Luft. Wie lange würde er die Luft anhalten können? Egal. Es war ohnehin absurd, sich gegen das Unvermeidliche
     zu stemmen. Trotzdem |515| presste er die Lippen fest zusammen, obwohl er wusste, dass dies seinen Tod nur minimal hinauszögern würde. Und wieder dieser
     lästige Überlebenswille. Doch jetzt verstand er, was der Grund für diese plötzliche Lust am Leben war: Das Schlimme am Sterben
     war, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, das zu ändern, was er gewesen war. Alle würden nur das hässliche Bild sehen, das
     er im Leben abgegeben hatte. Eine ihm ewig erscheinende und beklemmende Zeitlang schwebte er aufrecht im Wasser, fühlte seine
     brennenden Lungen und das ohrenbetäubende Pochen seiner Schläfen, fühlte, wie ihm die Luft ausging und er gegen seinen Willen
     den Mund aufriss. Das Wasser strömte in seine Kehle, sprudelte fröhlich in seine Lungen und überschwemmte sie, bis die Welt
     um ihn herum gänzlich verschwamm. Da begriff Tom, dass dies das Ende war, dass er in wenigen Sekunden das Bewusstsein verlieren
     würde.
     
    Trotzdem hatte er noch die Zeit, ihn herankommen zu sehen. Er sah ihn aus wabernden Nebeln auftauchen und mit schweren Eisenschritten
     über den Grund des Flusses auf ihn zukommen. Wahrscheinlich lag es am Sauerstoffmangel in seinem Gehirn, dass er Traumbilder
     für Wirklichkeit hielt. Aber er kam ohnehin zu spät. Sein Eingreifen war gar nicht nötig; er würde auch ohne seine Hilfe ertrinken.
     Vielleicht kam er auch nur, um ihm beim Sterben zuzusehen; sie beide einander gegenüber in der dunklen Vertraulichkeit des
     Wassers.
    Als der Eisenmann ihn erreichte, legte er ihm jedoch zu seiner Überraschung einen Arm um die Taille, als wollten sie ein Tänzchen
     wagen, mit dem anderen zerrte er an dem |516| Seil, bis er es gelöst hatte. Dann zog er ihn mit sich nach oben, und schon am Rande der Bewusstlosigkeit sah Tom die Schiffsbäuche
     über sich auftauchen und den zittrigen Schein der Hafenlaterne. Noch bevor er begriff, wie ihm geschah, stieß sein Kopf durch
     die Wasseroberfläche ins Freie.
    Die Nachtluft strömte in seine Lungen, und Tom wusste, dies war der wahre Geschmack des Lebens. Gierig sog er die Luft ein
     und musste husten wie ein hungriges Kind, das sich am Essen verschluckt. Kraftlos ließ er sich von seinem Feind auf die Kaimauer
     hieven. Dort lag er starr vor Kälte und halb besinnungslos auf den Steinen, bis er die Hände des Maschinenmenschen spürte,
     die auf seine Brust drückten. Die pumpenden Bewegungen halfen ihm, das geschluckte Meerwasser in Schwällen von sich zu geben.
     Als er nichts mehr in sich zu haben schien, musste er mehrmals husten und spie dabei rötliche Klümpchen aus, doch zugleich
     fühlte er das Leben in seinen bleichen, aufgeweichten Körper zurückfließen. Es war eine lustvolle Empfindung, sich wieder
     lebendig zu fühlen und zu wissen, dass er dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte. Als er wieder etwas zu Kräften gekommen
     war, schenkte Tom seinem Retter ein mühsames Lächeln. Dessen metallener Kopf schwebte wie eine schwarze Kugel über ihm, da
     die Laterne hinter ihm stand und seine Tom zugewandte Seite im Schatten hielt.
    «Danke, Salomon   …», flüsterte er.
    Der Maschinenmensch nahm seinen Kopf ab.
    «Salomon?», lachte er. «Das ist ein

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