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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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er, ob er auf irgendeine andere Weise verfahren könne.
    «Nein, es ist unvermeidlich, Tom», sagte er schließlich achselzuckend. «Wenn ich dich nicht umbringe, wirst du sie früher
     oder später wieder aufsuchen. Davon bin ich überzeugt. Du wirst sie aufsuchen, weil du verliebt bist.»
    Als Tom das hörte, schaute er ihn überrascht an. Sollte das stimmen, dass er in Claire verliebt war? Er hatte nie ausführlicher
     darüber nachgedacht, da ihm die Antwort nichts genützt hätte: Ob er sie liebte oder ob er sie nur ausgenutzt hatte, er musste
     sich auf jeden Fall von ihr fernhalten. Allerdings musste er sich jetzt eingestehen, dass er, wenn Gilliam ihn am Leben ließe,
     sofort loslaufen und Claire aufsuchen würde, und das konnte nur heißen, dass |512| er tatsächlich in sie verliebt war. Ja, er liebte sie, erkannte Tom zu seiner großen Überraschung; er liebte Claire Haggerty.
     Er hatte sie vom ersten Augenblick an geliebt. Er liebte sie wegen ihrer Art, ihn anzusehen, wegen ihrer zarten Haut, wegen
     der Art, wie sie ihn liebte. Und wie angenehm es war, sich von dem schützenden Mantel dieser unermesslichen, bedingungslosen
     Liebe umfangen zu lassen, von diesem Zaubermantel, der ihn vor der Kälte des Lebens bewahrte, dem Zittern der Seele im Raureif
     des Alltags, jenem unaufhörlichen Sturm, der die Läden aufriss und seinen kalten Atem in sein tiefstes Inneres blies. Und
     da erkannte er, dass er sich nichts mehr wünschte, als sie ebenso bedingungslos zu lieben, da dies das Wichtigste und Vornehmste
     war, was ein Mann im Leben tun konnte. Zu lieben aus keinem anderen Grund als der Befriedigung, die es bereitete, dazu fähig
     zu sein. Das war die Feder in seinem Mechanismus, der Grund seines Daseins, denn wenn er auch keine Spuren in der Welt hinterließ,
     so konnte er doch einen anderen Menschen glücklich machen, denn das war das Wichtigste. Es gab nichts Wichtigeres, als eine
     Spur im Herzen eines anderen Menschen zu hinterlassen. Ja, Gilliam hatte recht, er würde sie aufsuchen, weil er sie bei sich
     brauchte, an seiner Seite brauchte, um dem entfliehen zu können, was er war. Er würde sie aufsuchen, weil er sie liebte. Das
     machte die Lüge, in der Claire gefangen war, weniger schlimm, denn letzten Endes liebte sie jemanden, der sie ebenfalls liebte,
     und seine Liebe war wie Shackletons Liebe nicht in der Lage, Claire zu erreichen; sie verlor sich irgendwo, kam nicht bei
     ihr an. Was half es da, dass sie in derselben Zeit lebten, sogar in der selben Stadt, dem Eiterherd London am Ende des Jahrhunderts, |513| wenn sie sich voneinander fernhalten mussten, als trennte sie ein Ozean von Zeit.
    «Aber wozu mit der Geschichte weitermachen», hörte er Gilliam sagen, der seinen Gedanken ja nicht gefolgt war. «Damit würde
     ich sie nur um ein bewegendes Ende bringen, meinst du nicht? Es ist besser, dass du verschwindest, Tom, dass die Geschichte
     so endet, wie es sich gehört. Am Glück der jungen Dame wird das nichts ändern.»
    Gilliam Murray erhob sich und schaute aus der Höhe mit wissenschaftlicher Neugier auf ihn hinunter, als befände sich Tom in
     einer Flasche mit Formol.
    «Tu ihr nichts», stammelte Tom.
    Gilliam schüttelte mit gespielter Empörung den Kopf.
    «Natürlich nicht, Tom. Verstehst du denn nicht? Ohne dich bedeutet die Kleine nicht die geringste Gefahr für mich. Und ich
     habe meine Skrupel, auch wenn du das nicht glaubst. Ich bringe nicht x-beliebige Leute um, Tom.»
    «Ich heiße Shackleton», knurrte Tom. «Hauptmann Derek Shackleton.»
    Gilliam Murray lachte laut auf.
    «Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn du wirst auferstehen, das verspreche ich dir.»
    Nach diesen Worten schenkte er ihm ein letztes Lächeln, dann gab er seinen Leuten ein Zeichen.
    «Vorwärts, meine Herren. Bringen wir es hinter uns und gehen dann schlafen.»
    Daraufhin hoben Jeff und Bradley ihn hoch, während Mike Spurrell einen riesigen Stein anschleppte, an den ein Seil gebunden
     war, das sie um Toms Füße knoteten. Danach banden sie ihm die Hände auf den Rücken. Zufrieden lächelnd beobachtete Gilliam
     die Vorbereitungen.
    |514| «Fertig, Jungs», sagte Jeff, nachdem er die Knoten überprüft hatte. «Los geht’s.»
    Er und Bradley hoben Tom wieder hoch und trugen ihn zum Rand der Kaimauer, während Mike den Stein hinterhertrug, der ihn am
     Grund des Hafenbeckens verankern sollte. Tom schaute auf das dunkle Wasser und empfand nichts. Ihn hatte die seltsame Ruhe
    

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