Die Landkarte der Zeit
zu tun zu bekommen, der eher zu einem Roman seines
verehrten Sherlock Holmes passte als zum wirklichen Leben, in dem die Verbrecher meistens höchst einfallslos agierten.
Der Gerichtsmediziner grüßte ihn mit ernster Miene und führte ihn ohne ein Wort in den Autopsiesaal. Garrett begriff, dass
die Rätselhaftigkeit der Wunde den Arzt so in Rage gebracht hatte, dass sogar dessen unbesiegbarer Humor zum Erliegen gekommen
war. Trotz des etwas beunruhigenden Aussehens, das ihm sein einziges Auge verlieh, war Dr. Alcock ein stets fröhlicher und redseliger Mann. Wann immer Garrett im Leichenschauhaus zu tun hatte, empfing er ihn mit leutseliger
Herzlichkeit und nutzte den Weg über die langen Flure, um ihm vorzutragen, in welcher Reihenfolge die Organe der Bauchhöhle
zu untersuchen ihm am sinnvollsten erschien. Als wäre es der Refrain einer Volksweise, zählte er in singendem Tonfall auf:
Omentum, Milz, linke Niere, Nebennierenkapsel, Harnblase, Prostata, Samenbläschen, Penis, Samenstrang … eine Litanei von Namen, die mit dem Darmpaket endete, welches der Gerichtsmediziner aus Reinlichkeitsgründen zuletzt untersuchte,
da mit dessen Inhalt zu hantieren eine widerliche Sauerei sei, wie er versicherte. Und ich, der ich alles sehe, obwohl ich
nicht das geringste Interesse daran habe, kann Ihnen bestätigen, dass der Doktor trotz seiner |526| Neigung zur provokanten Rede bei Letzterem nicht übertrieben hat. Aufgrund meiner übernatürlichen Allgegenwart habe ich oft
genug gesehen, wie er nicht nur selbst bei diesem Tun mit Exkrementen beschmutzt wurde, sondern auch der Leichnam, der Untersuchungstisch
und der ganze Boden … Doch aus Respekt Ihnen gegenüber werde ich mich weiterer Einzelheiten enthalten.
Dieses Mal jedoch brachte der Mediziner entgegen seiner Gewohnheit die langen Flure in melancholischem Schweigen hinter sich.
Dann betraten sie einen großen Raum, in dem es unverkennbar nach Aas roch. Er wurde von mehreren vierarmigen Gaslampen erhellt,
die von der Decke hingen, den Raum nach Garretts Empfinden jedoch immer noch unzureichend erhellten, sodass er noch unheimlicher
wirkte, als er ohnehin schon war. In diesem Dämmerlicht erkannte man kaum etwas, das weiter als zwei Meter entfernt war. An
den Wänden standen kleine, mit chirurgischen Instrumenten beladene Tischchen und Regale voller Flaschen und Behältnisse, die
geheimnisvolle dunkle Flüssigkeiten enthielten. An der Rückwand befand sich ein großes Waschbecken, an dem er Dr. Alcock häufig genug sich das Blut von den Händen hatte waschen sehen. Auf einem Tisch in der Mitte des Raums, über dem soeben
eine weitere Lampe angezündet worden war, lag ein mit einem Laken bedeckter Körper. Dr. Alcock, der seine Untersuchungen mit aufgekrempelten Ärmeln durchzuführen pflegte, was Garretts Grusel noch verstärkte, bedeutete
ihm mit einer Kopfbewegung, näher zu treten. Auf einem Tischchen neben dem Leichnam häufte sich eine bedrückende Ansammlung
von Seziermessern, Knorpelscheren, einem Rasiermesser, mehreren Skalpellen, kleinen Sägen, |527| einem Knochenmeißel und dem dazugehörigen Hammer, einem Dutzend Nähnadeln mit Naturdarmfaden sowie einer nierenförmigen Schüssel,
gefüllt mit leicht rotschlierigem Wasser, auf das den Blick zu richten Garrett vermied.
In diesem Moment öffnete einer der Gehilfen des Gerichtsarztes die Tür und machte Anstalten einzutreten, doch Alcock verscheuchte
ihn mit einer zornigen Armbewegung. Garrett hatte ihn oft genug gegen diese frisch von der Universität kommenden Bürschchen
wettern hören, die ihm als Gehilfen zugeteilt wurden, die das Seziermesser wie eine Schreibfeder hielten und mit am Leib klebenden
Armen nur Finger und Handgelenk bewegten und so zaghafte kleine Schnitte machten, dass man eher den Eindruck hatte, sie säßen
beim Abendessen. «Heben Sie sich diese Puppenschnitte für die Vorführungen im Anatomieunterricht auf», pflegte Dr. Alcock ihnen zu sagen. Er selbst war ein glühender Verfechter langer, tiefer Schnitte, mit denen man den Widerstand eines
Arms oder der Schultermuskulatur auf die Probe stellen konnte.
Nachdem er die Unterbrechung abgewehrt hatte, schlug der Doktor das Tuch so unzeremoniös von dem Toten wie ein Zauberer, der
es leid ist, immer wieder denselben Trick vorzuführen.
«Es handelt sich um den Leichnam eines Mannes zwischen vierzig und fünfzig Jahren», leierte er mit monotoner Stimme, «einen
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