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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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«sollte Hauptmann Shackleton der Mörder sein, wird sich durch mein Eingreifen nach
     dem Kampf gegen Salomon nichts ändern. Der Krieg wird für die Menschheit gewonnen werden, und auch Ihre Veranstaltung wird
     darunter nicht leiden.»
    «Verstehe», murmelte Gilliam, ohne den Blick von dem Papier zu wenden.
    «Ich kann also mit Ihrer Zusammenarbeit rechnen, Mr.   Murray?»
    Gilliam hob langsam den Kopf und bedachte den Inspektor |548| mit einem Blick, in dem Garrett eine Sekunde lang Verachtung zu erkennen glaubte, doch dann sah er ein, dass er sich getäuscht
     haben musste, als der Unternehmer ihm mit breitem Lächeln antwortete:
    «Selbstverständlich, Inspektor, selbstverständlich. Bei der nächsten Reise werde ich drei Plätze für Sie reservieren.»
    «Haben Sie vielen Dank, Mr.   Murray.»
    «Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen», sagte der Unternehmer, erhob sich und gab ihm den Haftbefehl zurück, «eine Menge
     Arbeit wartet auf mich.»
    «Natürlich, Mr.   Murray.»
    Ein wenig überrascht von der überstürzten Art und Weise, mit der der Unternehmer das Gespräch beendete, erhob sich Garrett
     aus seinem Sessel, bedankte sich noch einmal für die Kooperation und verließ das Arbeitszimmer. Als er den langen Flur voller
     Uhren entlangschritt, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. In heiterster Stimmung stieg er die Treppen zur Halle hinab.
    «Omentum, Milz, linke Niere, Nebennierenkapsel, Harnblase, Prostata   …», trällerte er.

|549| XXXVI
    Weder das Gefühl des köstlich warmen Windhauchs auf seiner Haut, der den nahenden Sommer ankündigte, noch das Streicheln eines
     anderen Körpers, noch der Genuss von schottischem Whisky in der Badewanne, bis das Wasser erkaltete, noch sonst ein Vergnügen,
     das er sich vorstellen konnte, verursachte Wells ein solch tiefes Wohlbehagen wie der Moment, wenn er den letzten Punkt ans
     Ende eines Romans setzte. Dieser Höhepunkt erfüllte ihn stets mit einer rauschhaften Zufriedenheit, überschwemmte ihn mit
     einer Woge des Glücks, die der Gewissheit entsprang, dass nichts im Leben ihn mehr befriedigte, als einen Roman zu schreiben,
     sosehr die Arbeit daran auch zäh, mühsam und unergiebig war; denn Wells gehörte zu der Sorte von Schriftstellern, die das
     Schreiben hassen, aber es lieben, geschrieben zu haben.
    Er zog das letzte Blatt aus der Hammond-Schreibmaschine, packte es auf den Stapel und legte seine Hand darauf, mit dem triumphierenden
     Lächeln eines Jägers, der seinen Fuß auf den Nacken des erlegten Löwen stellt. Denn das Schreiben war für Wells wie eine Jagd,
     ein erbitterter Kampf um einen Gedanken, der sich der Niederschrift widersetzt. Einen Gedanken dazu, den er selbst ausgebrütet
     hatte. Das war vielleicht das Frustrierendste |550| an allem; die Distanz, die sich immer noch auftat zwischen dem erreichten Resultat und dem Ziel, das er sich, wenn auch eher
     unbewusst als willentlich, gesetzt hatte. Die Erfahrung sagte ihm, dass das, was man aufs Papier zu bringen schaffte, nur
     ein blasser Abglanz dessen war, was man sich ursprünglich vorgestellt hatte. Und so hatte er gelernt, damit zu leben, dass
     es nur halb so gut war wie das Original, nur halb so akzeptabel wie der perfekte Roman, der ihm vor Augen gestanden hatte
     und den er sich als höhnisch grinsenden Geist hinter den Seiten jedes seiner Bücher vorstellte. Aber nun, sagte er sich, hier
     hatte er jedenfalls die Mühen der letzten Monate vor sich liegen; und greifbar vor sich liegen zu haben, was bis zum Setzen
     des letzten Punktes nicht mehr als eine vage Möglichkeit gewesen war, war unbezahlbar. Morgen würde er das Manuskript Henley
     übergeben, und dann konnte er es vergessen.
    Ein Zweifel kam jedoch nie allein. In letzter Zeit fragte sich Wells angesichts des Stapels maschinengeschriebener Blätter
     nämlich, ob er das geschrieben hatte, was er eigentlich hatte schreiben sollen. War dieser Roman ein Werk, das in seiner Bibliographie
     stehen würde, oder war er ein mehr oder minder dem Zufall geschuldetes Nebenwerk? Entschied er, ob er einen Roman dieser oder
     jener Kategorie schrieb, oder unterlag auch das der Macht der Willkür, die das Leben der Menschen beherrschte? Es waren zu
     viele Fragen, und dabei gab es eine, die ihn besonders quälte: Verbarg sich in irgendeinem Winkel seines Hirns der Roman,
     der ihm alles zu geben erlaubte, was wirklich in ihm war? Ihn grauste es bei der Vorstellung, erst auf seinem Totenbett, kurz
     bevor er den

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