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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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letzten Schnaufer tat, könne aus den Tiefen seines Hirns das Thema eines ganz |551| außergewöhnlichen Romans auftauchen, den zu schreiben er dann keine Zeit mehr hätte. Ein Roman, der immer schon da gewesen
     war, auf ihn gewartet hatte, ihn gerufen hatte, doch unter all dem Lärm des Lebens nicht gehört worden war und nun mit ihm
     sterben würde, weil niemand sonst ihn schreiben konnte, da er allein für ihn gemacht war wie ein maßgeschneiderter Anzug.
     Das war seine größte Angst, sein schlimmster Fluch.
    Er schüttelte den Kopf, um die lästigen Gedanken zu verscheuchen, und schaute auf die Uhr. Es war bereits nach Mitternacht,
     deshalb konnte er neben sein Namenszeichen auf dem letzten Blatt des Romans das Datum 21.   November 1896 schreiben. Danach blies er liebevoll über die feuchte Tinte, stand auf und griff zur Petroleumlampe. Sein Rücken
     schmerzte, und er war hundemüde, doch er nahm nicht den Weg zum Schlafzimmer, aus dem Janes gleichmäßige Atemzüge zu hören
     waren. Heute würde er keine Zeit zum Schlafen haben; ihn erwartete eine wirklich unruhige Nacht, dachte er, und dabei spielte
     der Anflug eines Lächelns um seine Lippen. Im Licht der Lampe ging er durch den Flur, füllte ihn mit dem gedämpften Schurren
     seiner Filzpantoffeln und stieg die Treppe zum Dachboden hinauf, wobei er darauf achtete, dass die Stufen nicht knarrten.
    Oben erwartete ihn, glänzend und schön, vom unwirklichen Licht des Mondes beschienen, die Maschine. Das heimliche Ritual war
     ihm zur Gewohnheit geworden, obwohl er nicht einmal sagen konnte, was ihm an diesem harmlosen und absurden Spiel so gefiel,
     das darin bestand, sich einfach nur in die Maschine zu setzen, während seine Frau schlief. Vielleicht die Tatsache, dass er
     sich darin, obwohl |552| er wusste, dass es nicht mehr als ein besonders schön gearbeitetes Spielzeug war, unwillkürlich als etwas Besonderes fühlte.
     Wer immer sie hergestellt hatte, hatte liebevoll jedes Detail bedacht. Die Maschine mochte zwar nicht durch die Zeit reisen
     können; aber dank ihrer wohlüberlegten Mechanik konnte man auf der Armaturenanzeige jedes beliebige Datum einstellen, die
     fiktiven Ziele jener unmöglichen Reisen durch das Gefüge der Zeit.
    Bislang hatte Wells nur die fernste Zukunft im Visier gehabt, wie das Jahr 802701, die Welt der Elois und Morlocks. Er hatte
     sich ausschließlich auf ein Morgen konzentriert, in dem das Leben, wie er es kannte, vollkommen fremd und auf eine schmerzhafte
     Weise sogar unverständlich war; aber er hatte auch Zeiten der Vergangenheit eingestellt, in denen er gern gelebt hätte, die
     Zeit der Druiden etwa. In dieser Nacht jedoch stellte er spöttisch lächelnd den 20.   Mai 2000 ein; das Datum, das dieser Hochstapler Gilliam Murray für die Entscheidungsschlacht der Menschheit gewählt hatte,
     dieses kindische Theater, das zu seinem Erstaunen ganz England geschluckt hatte, dank seines eigenen Buches zum Teil. Welch
     eine Ironie, dass er, der Autor des Romans einer Zeitreise, der Einzige war, der diese für unmöglich hielt! Er hatte ganz
     England zum Träumen gebracht, doch er selbst war für diesen Traum unempfänglich.
    Wie würde die Welt ein Jahrhundert später denn wirklich aussehen, fragte er sich. Er wäre gern einmal ins Jahr 2000 gereist;
     nicht allein um des Vergnügens willen, es kennenzulernen, sondern auch, um mit diesen neumodischen Fotoapparaten dort ein
     paar Fotos zu schießen und hinterher den arglosen Landsleuten, die vor Murrays Unternehmen Schlange standen, das wahre Gesicht
     der |553| Zukunft zu zeigen. Es war natürlich ein ganz unmöglicher Wunsch; aber er konnte immerhin so tun, als würde er ihn sich wahr
     machen, dachte er, lehnte sich in seinem Sitz zurück und betätigte feierlich den Hebel. Sogleich spürte er das erregende Kribbeln
     am ganzen Körper, welches ihn jedes Mal befiel, wenn er diese Handbewegung vollführte.
    Als jedoch der Hebel diesmal einrastete, versank zu seiner Überraschung der ganze Dachboden in tiefe Dunkelheit. Das durchs
     Dachfenster hereinfallende Mondlicht schien sich zurückzuziehen und wich einer undurchdringlichen Finsternis. Bevor er nur
     annähernd begriff, was geschehen war, hatte er das schwindelerregende Gefühl, rasend schnell in die Tiefe zu stürzen. Er fühlte
     sich schwerelos, wie in einem dunklen Nichts dahintreibend, das durchaus das Universum selbst sein mochte. Und während sein
     Bewusstsein kollabierte, konnte er gerade noch

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