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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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weiterbrennen, denn sein Geld beschützte ihr Delirium vor dem
     Licht und verbannte sogar Joe in die Ferne, Marie Kellys Mann, an den er möglichst nicht dachte, wenn er im Schutz seiner
     ärmlichen Kleidung mit ihr durch das Gewirr schmutziger Gassen spazierte, aus dem Whitechapel einzig und allein zu bestehen
     schien. |71| Es waren beschauliche Spaziergänge, auf denen sie Kolleginnen und Bekannten des Mädchens begegneten, der ergebenen Infanterie
     eines Krieges ohne Schützengräben, einem Trupp armer Teufel, die jeden Morgen aufstanden, um es, getrieben allein vom Überlebensinstinkt
     der Tiere, mit einer feindlichen Umgebung aufzunehmen, und die Andrew voller Faszination bewunderte, als handle es sich um
     exotische Blumen, die in seiner Welt nicht vorkamen. Allmählich erwuchs in ihm die Gewissheit, dass das Leben dort wirklicher,
     elementarer und nachvollziehbarer war als in dem luxuriös ausgepolsterten Herrenhaus, in dem sich sein eigenes Dasein abspielte.
    Manchmal musste er sich die Mütze tief in die Stirn ziehen, um nicht von den reichen Bengeln erkannt zu werden, die in manchen
     Nächten hordenweise in das Viertel einfielen. Sie kamen in herrschaftlichen Kutschen und strolchten hochmütig und rücksichtslos
     wie Eroberer durch die Straßen, suchten die erstbeste Absteige, um dort ungestraft ihre niedersten Instinkte auszuleben, denn,
     wie Andrew in den Rauchsalons des West End schon öfter hatte munkeln hören, für das, was man mit den armen Huren von Whitechapel
     anstellen konnte, gab es nur zwei Grenzen: die des Geldes und der eigenen Vorstellungskraft. Während er die lärmenden Banden
     dieser reichen jungen Leute beobachtete, fühlte Andrew einen unerwarteten Beschützerinstinkt in sich aufwallen, der nur daher
     rühren konnte, dass er Whitechapel inzwischen unbewusst als eine Gegend betrachtete, die seine Wachsamkeit verdiente. Doch
     dem Einfall der Barbaren hatte er wenig entgegenzusetzen. Er konnte sich nur von einem Gefühl des Mitleids und der Ohnmacht
     überwältigen lassen und alles |72| in den Armen seiner Geliebten zu vergessen suchen, die ihm von Tag zu Tag schöner erschien, als habe sie unter seiner liebevollen
     Aufmerksamkeit den Glanz wiedergefunden, mit dem sie zur Welt gekommen war und den das Leben ihr gestohlen hatte.
    Wie man aber weiß, gibt es kein Paradies ohne Schlange, und je süßer die Zeit, die Andrew mit seiner Geliebten verbrachte,
     desto bitterer der Geschmack auf seinen Lippen, wenn ihm klarwurde, dass das, was er von Marie Kelly hatte, das Einzige war,
     das er haben konnte, mochte dies auch noch so ungenügend sein und er jeden Tag nach mehr verlangen, denn diese unmöglich außerhalb
     von Whitechapel vorstellbare Liebe war trotz ihrer unleugbaren Intensität immer noch zufällig und trügerisch. Und während
     in den Straßen ein aufgebrachter Mob den jüdischen Schuster mit dem Spitznamen Lederschürze zu lynchen versuchte, begrub Andrew
     seinen Zorn und seine Furcht in Marie Kellys Armen, wobei er sich fragte, ob das Feuer seiner Geliebten daher rührte, dass
     auch sie das Gefühl hatte, in der Glut einer unverdienten Leidenschaft zu brennen, dass sie nichts anderes tun konnten, als
     die Rose jenes unvermuteten Glücks mit aller Macht festzuhalten und den Schmerz zu ignorieren, den die Dornen ihnen zufügten.
     Oder ob sie im Gegenteil damit ihren festen Willen bekunden wollte, diese Liebe vor dem Verlöschen, zu dem sie verurteilt
     schien, zu bewahren, selbst wenn sie dafür den Lauf der Welt anhalten müsste. Und wenn dem so war, verfügte er dann über dieselbe
     Kraft, besaß er das notwendige Vertrauen, um sich einem Kampf zu stellen, der ihm von vornherein verloren schien? Sosehr Andrew
     sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, sich Marie Kelly im |73| Kreise herausgeputzter Damen seines Standes vorzustellen, deren einzige Bestimmung im Leben es war, ihre sich rundenden Bäuche
     vorzuführen, schließlich ihr Heim mit Kindergeschrei zu füllen und die Freunde des geliebten Gatten mit ihren Klavierkünsten
     zu erfreuen. Würde Marie Kelly diese Rolle spielen und sich zugleich gegen die Brandungswelle einer sozialen Ablehnung behaupten
     können, die mit Sicherheit über ihr zusammenschlüge; oder ginge sie zugrunde wie eine exotische Blume außerhalb ihres Gewächshauses?
     
    Von diesen Sorgen, die ihn heimlich quälten, vermochten ihn die Zeitungen, die immer noch von den Hurenmorden berichteten,
     kaum abzulenken. Eines Morgens

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