Die Landkarte der Zeit
Sie ganz richtig bemerkt haben. Es hat mich |572| manche schlaflose Nacht gekostet, das können Sie mir glauben. Verständlicherweise konnte ich keine Schnecken zeigen, die sich
schnell wie Kaninchen fortbewegen, oder den Mond, der seine sämtlichen Phasen in wenigen Sekunden durchläuft, so wie Sie es
in Ihrem Roman getan haben, um die Fortbewegung in Richtung Zukunft zu veranschaulichen. Ich musste mir also eine Reise durch
die Zeit einfallen lassen, ohne die genannten Wirkungen zeigen zu müssen, ohne aber auch einer wissenschaftlichen Grundlage
zu entbehren, denn wenn die Zeitungen verkündeten, dass man ins Jahr 2000 reisen könne, würden garantiert alle Wissenschaftler
des Landes aufmerken und wissen wollen, wie zum Teufel so etwas gehen sollte. Eine wahrhaftige Herausforderung, finden Sie
nicht? Nachdem ich alles gründlich durchdacht hatte, gelangte ich schließlich zu der Überzeugung, dass mir nur ein Hilfsmittel
blieb, das wissenschaftlich nicht zu hinterfragen war: Magie.»
«Magie?»
«Ja, wessen sollte ich mich sonst bedienen, wenn mir die Wissenschaft verschlossen blieb? Als Erstes erfand ich eine neue
Unternehmensgeschichte. Bevor ich mein Zeitreiseunternehmen eröffnete, hatten mein Vater und ich keine langweilige Fabrik
für Gewächshäuser geführt, sondern eine Gesellschaft zur Finanzierung und Ausrüstung von Expeditionen, wie sie heute zuhauf
durchgeführt werden, um die letzten Geheimnisse der Welt zu erkunden. Und natürlich suchten auch wir mit allen Mitteln nach
den mythischen Quellen des Nils, die den Legenden nach im Herzen Afrikas zu finden waren. Unseren besten Forscher, Oliver
Tremanquai, hatten wir losgeschickt, der nach gefahrvollen Abenteuern schließlich auf einen Eingeborenenstamm |573| stieß, welcher mittels Magie Zugang zu einer anderen Dimension herstellen konnte.»
Gilliam machte eine Pause und beobachtete mit belustigtem Lächeln, wie der Schriftsteller seine Verblüffung zu verbergen suchte.
«Durch diesen Zugang betrat man eine von Stürmen durchtoste rosafarbene Ebene, in der die Zeit nicht verging», fuhr er fort,
«und die nichts anderes war als meine persönliche Vorstellung von der vierten Dimension. Diese Ebene könnte man sich als eine
Art Vorzimmer zu anderen Zeitepochen vorstellen, denn darin gab es eine ganze Anzahl weiterer Zugänge, sogenannte Zeitlöcher,
genau wie das, das die Verbindung zu dem Eingeborenendorf herstellte. Eines von ihnen führte zum 20. Mai des Jahres 2000, dem Tag, an dem die Menschen in einem verwüsteten London gegen eine Armee von Maschinenmenschen um ihr
Überleben kämpfen. Und was konnten wir anderes tun, mein Vater und ich, nachdem wir von der Existenz dieses magischen Zeitlochs
erfahren hatten, als es zu stehlen und nach London zu bringen, um es den Bürgern unseres Landes vorzuführen? Genau das taten
wir. Wir schlossen es in einen eigens dafür hergestellten eisernen Kasten ein und transportierten es hierher.
Voilà
, da hatte ich die Lösung, die ich suchte, um ohne jedes wissenschaftliche Hilfsmittel in die Zukunft reisen zu können. Dazu
brauchte man jetzt nur noch mit der
Cronotilus
durch das Zeitloch zu fahren, die rosafarbene Ebene zu durchqueren und dann das andere Zeitloch zu passieren, das ins Jahr
2000 führte. Einfach, nicht? Um den Reisenden die vierte Dimension nicht zeigen zu müssen, bevölkerte ich sie passenderweise
mit schrecklich gefährlichen, drachenartigen Ungeheuern, |574| deren schrecklichen Anblick ich meinen Reisegästen natürlich nicht zumuten konnte. So sah ich mich gezwungen, die Fenster
der
Cronotilus
zu schwärzen, damit sensible Gemüter keinen Schaden nahmen», sagte Gilliam und deutete auf die schwarz übermalten Bullaugen
an den Seitenwänden der Straßenbahn. «Wenn meine Gäste in die
Cronotilus
eingestiegen sind, fahre ich sie an diese Stelle und sorge unterwegs für gehöriges Holpern und Schwanken sowie für ordentliches
Gebrüll der Ungeheuer, das durch Oboen und Posaunen zustande kommt. Ich habe nie selbst erlebt, wie das im Inneren der
Cronotilus
wirkt, aber es muss wohl sehr überzeugend sein, nach den bleichen Gesichtern zu urteilen, die ich bei vielen meiner Passagiere
sehe, wenn sie zurückkommen.»
«Aber wenn das Zeitloch sie immer an diese Stelle des Jahres 2000 führt …», begann Wells.
«… müsste jede Expedition auf die vorigen und alle späteren treffen», unterbrach ihn Gilliam. «Ich weiß, ich weiß, so
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