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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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doch jetzt
     wusste Wells, dass der Koloss eine schwache Stelle hatte, einen kleinen Riss in der Fassade, der immer mal wieder drohte,
     sie zusammenbrechen zu lassen; und jetzt, da der Unternehmer wieder seinen herablassenden Hochmut vorführte, war Wells sogar
     ein wenig stolz, dass er es gewesen war, der diesen Riss verursacht hatte.
    |567| «An jenem Nachmittag fand ich allerdings keine andere Möglichkeit, mich zu wehren, als den einer in die Enge getriebenen Ratte»,
     rechtfertigte sich Gilliam nun. «Als ich mich wieder beruhigt hatte, sah ich zum Glück alles mit anderen Augen. Ja, man könnte
     es sogar eine Erleuchtung nennen.»
    «Tatsächlich?», fragte Wells spöttisch.
    «Ja, ohne Zweifel. Als ich Ihnen gegenübersaß, erkannte ich, dass ich das falsche Medium gewählt hatte, um der Welt meine
     Vorstellung von der Zukunft nahezubringen. Dadurch, dass ich ihr die Form eines Romans gegeben hatte, hatte ich sie zur Fiktion
     gemacht, einer plausiblen Fiktion zwar, aber eben doch einer Fiktion, so wie Sie es mit Ihrer Zukunft der Elois und Morlocks
     gemacht haben. Was wäre aber, wenn ich diese beschränkende Zwischenform wegließe, fragte ich mich, und stattdessen versuchen
     würde, meine Zukunft als etwas wirklich Existierendes zu zeigen? Verstehen Sie, wenn ganz England glaubte, meine Vision des
     Jahres 2000 sei die tatsächliche Zukunft, wäre das Vergnügen, eine recht wahrscheinlich klingende Fiktion geschrieben zu haben,
     nichts dagegen. Aber wäre das zu bewerkstelligen?, fragte sich der Unternehmer in mir. Die äußeren Umstände, um solch ein
     Projekt zum Erfolg zu führen, konnten besser nicht sein. Ihr Roman, Mr.   Wells, hatte landauf, landab eine lebhafte Diskussion um die Frage entfacht, ob Zeitreisen im Bereich des Möglichen lagen.
     In den Clubs und Cafés wurde über nichts anderes mehr geredet. Ironie des Schicksals, dass Sie sozusagen den Boden bereitet
     hatten, damit ich meinen Samen aussäen konnte. Warum also sollte ich den Leuten nicht geben, wonach sie sich sehnten? Warum
     ihnen nicht eine Reise ins |568| Jahr 2000 anbieten, in meine Zukunft? Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde; aber eines wusste ich mit Sicherheit: Ich
     würde nicht weiterleben können, ohne es versucht zu haben. Ohne es zu wollen, Mr.   Wells, ganz zufällig, wie die wichtigen Dinge im Leben immer passieren, haben Sie mir ein Ziel gegeben, einen Grund zu leben,
     denn wenn ich dieses Ziel erreichte, das wusste ich, würde ich jenes Hochgefühl einer vollkommenen Zufriedenheit erlangen,
     die mir der Bau von Gewächshäusern niemals hätte geben können.»
    Wells musste den Kopf senken, um dem Unternehmer nicht einen verständnisvollen Blick zuzuwerfen, erinnerten ihn dessen Worte
     doch an die oft an Wunder grenzenden Ereignisse, die ihn in die liebevoll geöffneten Arme der Literatur geführt und den weit
     weniger liebevollen Armen seiner ihn zur Mittelmäßigkeit verdammen wollenden Mutter entrissen hatten. Seine Sprachbegabung
     hatte ihn dann davor bewahrt, den Sinn seines Daseins auf jenem Weg suchen zu müssen, den all jene gingen, die keine Ahnung
     hatten, wozu sie geboren worden waren, und die nur das kleine alltägliche Glück kannten, das ein gutes Glas Wein oder die
     Zärtlichkeit einer willigen Frau ihnen gab.
    «Auf dem Weg zurück nach London begann es in meinem Hirn zu arbeiten», hörte er den Unternehmer sagen. «Ich war mir sicher,
     dass das Unmögliche, wenn es nur wahrscheinlich war, glaubhaft sein würde. Eigentlich war es nicht anders als bei den Gewächshäusern:
     Wenn die Glaselemente hinreichend licht und elegant waren, achtete niemand mehr auf die stützende Eisenkonstruktion; dann
     schienen sie zu schweben, als wären Zauberkräfte im Spiel. Gleich am nächsten Tag verkaufte ich das Unternehmen, |569| das mein Vater aus dem Nichts aufgebaut hatte. Ich tat es ohne die geringsten Gewissensbisse, falls Sie sich das fragen; das
     Gegenteil war der Fall. Der Verkauf versetzte mich in die Lage, im wahrsten Sinne des Wortes an der Zukunft zu bauen; also
     eigentlich genau das zu tun, was mein Vater immer vorgehabt hatte. Nach dem Verkauf erwarb ich dieses alte Theater. Ich wählte
     es, weil genau dahinter, in Richtung Charing Cross Road, zwei Gebäude leer standen, die ich auch gekauft habe. Der nächste
     Schritt bestand natürlich darin, die drei Gebäude zu einem einzigen zu vereinen, wofür alle Innenmauern eingerissen wurden,
     bis dieser eine gigantische Raum

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