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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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mich
     gefangen genommen hat. Und da war noch etwas anderes. Wenn ich beispielsweise ein Buch von Dickens gelesen habe, hatte ich
     nie den Wunsch, etwas Ähnliches zu schreiben; herauszufinden, ob ich mir auch einen Roman über die Abenteuer eines Bettlerjungen
     ausdenken konnte, oder die Leiden eines Jungen in einer Schuhcremefabrik. Mir schien, dass jeder mit einem Minimum an Vorstellungskraft
     das tun konnte. Aber über die Zukunft schreiben   … ah, Mr.   Wells, das war etwas ganz anderes. Das schien mir wirklich eine Herausforderung zu sein, denn da war Intelligenz gefragt und
     logisches Denken. Würde ich in der Lage sein, eine wahrscheinlich scheinende Zukunft zu entwerfen? Das fragte ich mich eines
     Nachts, nachdem ich einen dieser Zukunftsromane ausgelesen hatte. Wie Sie sich schon gedacht haben werden, nahm ich mir Sie
     als Vorbild, denn abgesehen davon, dass wir uns derselben Thematik widmen, sind wir auch gleich alt. Einen Monat lang schrieb
     ich Tag und Nacht einen Roman über die Zukunft, der mein Können und die Kraft meiner Logik unter Beweis stellen sollte. Natürlich
     bemühte ich mich, gut zu schreiben, aber viel mehr Wert legte ich auf den prophetischen Gehalt. Ich wollte, dass meinen Lesern
     die Zukunft, die ich entworfen hatte, glaubwürdig schien, dass sie ihnen plausibel vorkam. Vor allem jedoch interessierte
     mich die Meinung des Schriftstellers, der mir den Weg gezeigt hatte: Ihre Meinung, Mr.   Wells. Ich wollte, dass Sie meinen Roman lasen und die Trefflichkeit meines |565| Zukunftsentwurfs lobten, dass Sie mir nach der Lektüre in die Augen schauten und mich als Ihresgleichen erkannten. Es hätte
     mir nicht gereicht, dass Sie meinen Roman kurzweilig fänden, Mr.   Wells. Ich wollte, dass Sie bei der Lektüre dasselbe intellektuelle Vergnügen spürten, wie ich es bei der Lektüre Ihres Romans
     empfand.»
    Die beiden Männer schauten sich an, und ein Schweigen lastete auf ihnen, das nur durch das ferne Krächzen der Raben zerrissen
     wurde.
    «Aber Sie wissen ja, es ist anders gekommen», fuhr Gilliam fort und schüttelte traurig den Kopf, was Wells unwillkürlich rührte,
     da ihm dies die erste wahrhaftige Geste des Unternehmers zu sein schien, seit sie ihren Spaziergang begonnen hatten.
    Sie waren neben einem gewaltigen Trümmerhaufen stehengeblieben, wo Gilliam, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben,
     minutenlang niedergeschlagen auf seine Schuhspitzen starrte und vielleicht darauf wartete, dass Wells ihm eine Hand auf die
     Schulter legte und die tröstenden Worte sprach, die wie Schamanengesang die hässliche Verletzung heilten, die jener ihm in
     seinem Stolz damals zugefügt hatte. Der Schriftsteller jedoch betrachtete ihn, wie etwa ein Fallensteller ein Kaninchen ansehen
     mochte, das sich in seiner Falle wand, und der sich selbst nur als Mittel zum Zweck sah, wohl wissend, dass das Leiden des
     Tieres von der grausamen Harmonie des Lebens bestimmt wurde.
     
    Als er begriff, dass die einzige Person, die ihm den lindernden Balsam zu geben vermochte, nicht dazu bereit war, setzte Gilliam
     den Spaziergang finster lächelnd fort. |566| Sie gingen jetzt durch eine Straße, die nach den herrschaftlichen Umzäunungen und dem luxuriösen Mobiliar zu urteilen, das
     hier und da aus den Trümmern ragte, zu einem wohlhabenden Wohnviertel gehört haben musste und Erinnerungen an ein Leben wachrief,
     das in dieser Trostlosigkeit so unstimmig wirkte, als wäre die Schaffung des Menschen und seine Verteilung über den Erdkreis
     ein göttlicher Irrtum gewesen, eine lächerliche Saat, dazu bestimmt, von den Elementen zermalmt zu werden.
    «Ich will nicht leugnen, dass ich mich anfangs geärgert habe, als Sie an meinen Fähigkeiten als Schriftsteller zweifelten»,
     sagte Gilliam mit einer Stimme, die wie Sirup aus seiner Kehle zu rinnen schien. «Niemand hat es gern, wenn seine Arbeit verachtet
     wird. Mehr jedoch hat mich geärgert, dass Sie den Wahrscheinlichkeitsgehalt meines Romans in Frage stellten, die Zukunft,
     die auszumalen ich mir solche Mühe gegeben hatte. Ich weiß, dass meine Reaktion darauf nicht richtig war, und ich würde mich
     bei dieser Gelegenheit gern dafür entschuldigen. Wie Sie meinen Worten entnommen haben dürften, hat sich meine Meinung nicht
     geändert; ich betrachte Ihren Roman immer noch als das Werk eines Genies.»
    Seine letzten Worte hatte Gilliam mit leichter Ironie gesprochen. Auch sein hochmütiges Lächeln war zurückgekehrt,

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