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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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dem Beamten
     hinaus auf den Gang, wo die beiden ein Gespräch begannen, das nur als undeutliches Gemurmel an des Schriftstellers Ohr drang.
     Nach einigen Minuten kam Garrett mit düsterer Miene zurück und hielt einen Zettel hoch.
    «Die Stadtpolizei ist ein unfähiger Haufen», knurrte er, und Wells wunderte sich, dass dieses zarte Bürschchen so ruppig sein
     konnte. «Die Beamten, die ich zum Tatort geschickt habe, haben an einer Mauer in der Nähe einen Wandspruch entdeckt, der noch
     niemandem aufgefallen ist.»
    Er las den Zettel mehrere Male und schüttelte verärgert den Kopf.
    «Für Ihren Besuch hier, Mr.   Wells», sagte er schließlich und strahlte den Schriftsteller an, «hätten Sie allerdings keinen besseren Moment wählen können.
     Wenn Sie mich fragen, handelt es sich bei diesem Text um ein Fragment aus einem Roman.»
    Wells hob fragend die Brauen und nahm den Zettel, den Garrett ihm reichte. Er las:
     
    Der Fremde erschien Anfang Februar an einem winterlich kalten Tag mit dem letzten Schnee des Jahres. Bei schneidendem Wind
     und durch Schneegestöber kam er querfeldein zu Fuß von der Bahnstation in Bramblehurst, einen schwarzen Mantelsack in der
     behandschuhten Hand.
     
    |592| Der Schriftsteller schaute auf und begegnete dem Blick des Inspektors.
    «Sagt Ihnen der Text etwas, Mr.   Wells?», fragte er.
    «Nein», erwiderte Wells, ohne eine Sekunde zu zögern.
    Garrett nahm den Zettel wieder entgegen und las ihn noch einmal durch, wiegte dabei den Kopf wie ein Uhrpendel.
    «Mir auch nicht», gab er zu. «Was will uns Shackleton nur damit sagen?», murmelte er grübelnd.
    Wells erhob sich.
    «Nun, Inspektor», sagte er, «ich will Sie nicht länger stören und lasse Sie mit Ihren Ungereimtheiten allein.»
    Garrett schaute verwirrt auf, dann schüttelte er Wells wieder die Hand.
    «Danke, Mr.   Wells. Ich werde Sie rufen lassen, wenn ich Sie brauche.»
    Wells nickte und verließ das Büro, ging durch den Flur, dann die Treppe hinunter, winkte draußen der ersten Kutsche, die er
     fand, und stieg ein wie ein Schlafwandler oder wie hypnotisiert oder – warum nicht – wie ein Roboter. Während der ganzen Fahrt
     nach Woking wagte er nicht, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, aus Furcht, irgendein auf dem Gehweg bummelnder Fremder
     oder ein am Wegesrand ausruhender Landmann könne zu ihm aufschauen und ihm einen zwinkernden Blick zuwerfen, der ihn mit Grauen
     erfüllen müsste. Zu Hause angekommen, zitterten seine Hände. Er ging ins Haus, ohne nach Jane zu rufen, und trat in die Küche.
     Auf dem Küchentisch stand die Schreibmaschine mit dem ersten Blatt seines neuen Romans, den er
Der Unsichtbare
nennen wollte. Kreidebleich setzte sich Wells an den Tisch und las den ersten Satz:
     
    |593|
Der Fremde erschien Anfang Februar an einem winterlich kalten Tag mit dem letzten Schnee des Jahres. Bei schneidendem Wind
     und durch Schneegestöber kam er querfeldein zu Fuß von der Bahnstation in Bramblehurst, einen schwarzen Mantelsack in der
     behandschuhten Hand.
     
    Es gab tatsächlich einen Zeitreisenden. Und er versuchte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, dachte Wells, als er wieder
     klar denken konnte. Aus welchem anderen Grund hätte er die ersten Zeilen von
Der Unsichtbare
an die Wand schreiben sollen? Der Roman war noch gar nicht veröffentlicht worden; er war der Einzige, der von ihm wusste.
     Einen Bettler mit einer noch nicht existierenden Waffe umzubringen war ein Hinweis an die Polizei, dass sie es nicht mit einem
     gewöhnlichen Täter zu tun hatte; aber die Sätze aus seinem Roman an der Wand des Tatorts konnten nur für ihn bestimmt sein.
     Mochte die ungewöhnliche Wunde des ermordeten Bettlers vielleicht doch von einer Waffe aus der Gegenwart stammen, auf die
     Garrett und die Gerichtsmediziner nur noch nicht gekommen waren, so konnte der Anfang seines neuen Romans nur einem Menschen
     aus der Zukunft bekannt sein, was den allerletzten Rest eines Zweifels vertrieb, der Wells noch daran hindern mochte, vorbehaltlos
     an die Existenz des Zeitreisenden zu glauben. Er erschauerte unter einem Frösteln, das nicht nur von der jähen Erkenntnis
     herrührte, dass die von ihm stets als Ausgeburt der Phantasie verworfenen Zeitreisen tatsächlich möglich waren beziehungsweise
     in der Zukunft möglich sein würden, sondern auch von der Tatsache, dass sich der Zeitreisende, wer immer dies sein mochte,
     aus irgendeinem dunklen Grund, den Wells |594| gar nicht wissen wollte, mit

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