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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Kathedrale von St.   Paul’s erreicht und sogar die alte römische Mauer in der Gegend der Fleet Street überwunden hatte. Was ihn jedoch mehr als
     das verwunderte, war die Tatsache, dass der Stadtplan nicht die geringsten Spuren einer über zweihundert Jahre dauernden Reise
     aufwies, die es gebraucht hatte, um in seine Hände zu gelangen. Wie ein Soldat, der beim Durchqueren eines Flusses sein Gewehr
     hochhebt, um es vor dem Wasser zu schützen, hatte der Zeitreisende diesen Plan vor dem Zahn der Zeit bewahrt, dem lautlosen
     Nagen der Jahre, |600| den gelben Klauen der Jahrzehnte, dem gierigen Fraß der Jahrhunderte.
    Nachdem sich Wells von seiner Überraschung erholt hatte, betrachtete er den Kreis, der den Berkeley Square bezeichnete und
     neben dem die Nummer fünfzig notiert war. Das war zweifellos der Ort, an dem sich die drei Autoren mit dem Zeitreisenden treffen
     sollten. Und er musste anerkennen, dass er keinen besseren Treffpunkt hätte finden können, denn Berkeley Square Nr.   50 galt als das verwunschenste Haus Londons.

|601| XXXVIII
    Berkeley Square war ein winziger Platz und wirkte viel zu düster für seine Größe, aber er hatte die ältesten Bäume der Londoner
     Innenstadt. Wells überquerte den Platz gemessenen Schrittes, grüßte mit einer knappen Verneigung die gleichgültige Nymphe,
     die der Bildhauer Alexander Munro der unsäglichen Trostlosigkeit der Umgebung hinzugesellt hatte, und blieb vor dem Haus mit
     der Nummer fünfzig stehen. Ein schlichtes Gebäude, das so gar nicht zu den übrigen passte, die den Platz umstanden und von
     berühmten Architekten ihrer Zeit gebaut worden waren. Es sah aus, als stehe es seit mindestens zehn Jahren leer, und obwohl
     die Fassade an sich nicht allzu schadhaft schien, waren sämtliche Fenster mit Brettern vernagelt; eine Kruste aus verwittertem
     Holz, die neugierige Blicke von den dunklen Geheimnissen, die dort drinnen angeblich brüteten, fernhalten sollten. Ob es eine
     gute Idee gewesen war, allein zu kommen?, fragte sich Wells, einen unwillkürlichen Schauder unterdrückend. Vielleicht hätte
     er Inspektor Garrett informieren sollen, denn schließlich war er nicht nur hier, um jemand zu treffen, der, wenn es darum
     ging, unbescholtene Bürger umzubringen, keine allzu großen Rücksichten zu nehmen schien, sondern er war mit dem naiven Vorsatz
     hergekommen, diesen Jemand |602| festzunehmen und dem Inspektor auf dem Silbertablett zu servieren, damit der sich die Reise ins Jahr 2000 ein für alle Mal
     aus dem Kopf schlagen konnte.
    Wells musterte die schlichte Fassade des Hauses, von dem es hieß, es sei das verwunschenste in ganz London, und dachte, dass
     es so schlimm wohl nicht sei. In der Zeitschrift
Mayfair
waren die merkwürdigen Vorkommnisse, die sich seit Beginn des Jahrhunderts in diesem Haus zugetragen hatten, sensationalistisch
     aufgemacht gewesen, und es hatte geheißen, wer sich dort hineinbegab, verlor entweder sein Leben oder den Verstand. Für Wells,
     der keinen Sinn für überirdische Dinge besaß, handelte es sich dabei nur um eine lange Aufzählung von schaurigem Unsinn, von
     Gerüchten, denen nicht einmal das gedruckte Wort zu einem Anschein von Wahrheit verhelfen konnte. Da ging es um Dienstboten,
     die den Verstand verloren hatten und nicht erklären konnten, was sie gesehen hatten; um Matrosen, die offenbar angegriffen
     worden waren, sich voller Entsetzen aus den Fenstern gestürzt und sich auf den Spitzen des Gitterzauns aufgespießt hatten;
     und natürlich um Nachbarn, die nicht einmal Schlaf fanden, wenn das Haus leer stand, und die behaupteten, unentwegtes Rücken
     von Möbeln zu hören und seltsame Schatten hinter den Fenstern zu sehen. Diese Anhäufung gruseliger Vorkommnisse hatte dem
     Gebäude seinen Ruf als Spukhaus eingetragen, als Wohnsitz eines grausamen Geistes. Für die jungen Draufgänger der Stadt ein
     willkommener Ort, ihren Mut zu beweisen, indem sie eine Nacht in diesem Haus verbrachten. 1840 hatte der Abenteurer Sir Robert
     Warboys mit seinen Freunden um hundert Guineen gewettet, dass er eine Nacht in dem Haus verbringen würde. Mit einem |603| Revolver bewaffnet, ging er hinein und verriegelte die Tür. Er hatte eine Schnur mitgenommen, die mit einem Glöckchen im Erdgeschoss
     verbunden war und an dem er, falls er in Bedrängnis geriete, zu ziehen versprach, wie er spöttisch lächelnd versicherte. Er
     war kaum eine Viertelstunde drinnen, als das Glöckchen ertönte und ein Schuss

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