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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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ihm in Verbindung zu setzen suchte.
    Die ganze Nacht wälzte er sich schlaflos im Bett, weil er das unangenehme Gefühl hatte, beobachtet zu werden, und weil er
     sich die ganze Zeit über fragte, ob er Inspektor Garrett informieren sollte oder ob der Zeitreisende ihm dies übelnehmen könnte.
     Als der Morgen graute, war er immer noch zu keinem Entschluss gekommen. Zum Glück brauchte er das auch nicht mehr, denn in
     diesem Augenblick hielt eine Dienstkutsche von Scotland Yard vor seinem Haus. Garrett hatte einen Beamten geschickt, um Wells
     abzuholen. Es gab einen neuen Toten.
    Ohne Frühstück und nur mit einem Mantel über dem Schlafanzug ließ sich Wells, noch ganz benommen, in die Hauptstadt fahren.
     Die Kutsche hielt in der Portland Street, wo der schmächtige Inspektor Garrett das Epizentrum eines beeindruckenden Polizeiaufgebots
     bildete. Wells zählte über ein halbes Dutzend Kriminalbeamte, die den Tatort zu sichern und die Neugierigen, unter denen Wells
     mindestens zwei Reporter erkannte, auf Abstand zu halten suchten.
    «Diesmal ist das Opfer kein Bettler», informierte ihn der Inspektor, nachdem er ihm die Hand geschüttelt hatte, «sondern der
     Wirt einer nahegelegenen Kneipe, ein gewisser Terry Chambers. Er ist allerdings mit derselben Waffe umgebracht worden.»
    «Hat der Mörder wieder eine Nachricht hinterlassen», fragte Wells mit schwacher Stimme und musste sich zusammennehmen, um
     nicht hinzuzufügen, «für mich?»
    Garrett nickte. Sein Ärger war offensichtlich, und es wäre ihm zweifellos lieber gewesen, Hauptmann Shackleton |595| hätte sich bis zur dritten Zeitreise, bei der Garrett ihn verhaften würde, einen weniger blutrünstigen Zeitvertreib ausgesucht.
     Der ganze Zirkus ringsum schlug ihm sichtlich auf den Magen, und er führte Wells durch die Polizeiabsperrung zum Tatort. Chambers
     saß auf der Erde, etwas schräg gegen eine Mauer gelehnt, mitten in der Brust ein rauchendes Loch, durch das man die Mauersteine
     sehen konnte. Über seinem Kopf hatte jemand etwas auf die Wand gekritzelt. Pochenden Herzens trat Wells näher, wobei er nicht
     auf den toten Wirt zu treten versuchte, und beugte sich vor, um zu lesen:
     
    Abfahrt von München am 1 . Mai um 8.35   Uhr, Ankunft in Wien früh am nächsten Morgen.
     
    Wells seufzte erleichtert auf, aber auch ein bisschen enttäuscht, denn das war keine Stelle aus seinem Roman. Handelte es
     sich um eine an einen anderen Schriftsteller gerichtete Botschaft? Das wäre eine logische Schlussfolgerung, und Wells war
     auch sicher, dass dieser Satz, so nichtssagend er sich anhörte, den Anfang eines noch unveröffentlichten Romans bildete, den
     sein Autor vielleicht gerade erst abgeschlossen hatte. Offenbar wollte sich der Zeitreisende noch mit anderen in Verbindung
     setzen.
    «Sagt Ihnen dieser Text etwas, Mr.   Wells?», fragte Garrett hoffnungsvoll.
    «Nein, Inspektor. Aber ich schlage vor, dass Sie ihn an die Zeitungen geben. Der Mörder gibt uns Rätsel auf, und die Augen
     eines ganzen Landes sehen mehr als die eines Einzelnen», sagte er in dem Bewusstsein, das die Mitteilung |596| an der Wand unbedingt ihrem Adressaten zur Kenntnis gebracht werden musste.
    Der Inspektor kniete nieder, um sich den Toten genauer anzusehen, und Wells ließ seinen Blick gedankenverloren über die Menschen
     gleiten, die sich hinter der Polizeiabsperrung drängten. Was mochte der Zeitreisende von zwei Schriftstellern des 19.   Jahrhunderts wollen? Er wusste es noch nicht, aber er war sich sicher, dass er bald dahinterkommen würde. Es war eine Frage
     des Abwartens. Im Moment war der Zeitreisende am Zug.
    Wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt, fiel sein Blick auf eine junge Dame, die ihn zu beobachten schien. Sie mochte etwas
     über zwanzig sein, hatte eine schlanke Figur, blasse Haut und rotblondes Haar und starrte ihn an, dass es ihm fast ungehörig
     erschien. Sie war gewöhnlich gekleidet und trug ein Schultertuch, doch etwas Seltsames war an ihr, an ihrem Gesichtsausdruck,
     der Art, ihn anzusehen, etwas, das er nicht in Worte zu fassen vermochte, das sie aber unter all den anderen heraushob.
    Wells drehte sich zu ihr um. Zu seiner Überraschung erschrak die junge Dame über die spontane Bewegung, wandte sich ab und
     verschwand in der Menge, ihr Haar lodernd wie eine Flamme im Wind. Als der Schriftsteller sich einen Weg durch die Neugierigen
     gebahnt hatte, war sie spurlos verschwunden. Er schaute in alle Richtungen, sah sie jedoch

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