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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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nirgends. Es war, als hätte sie
     sich in Luft aufgelöst.
    «Irgendwas nicht in Ordnung, Mr.   Wells?»
    Der Schriftsteller zuckte zusammen, als er die Stimme des Inspektors direkt hinter sich vernahm.
    «Haben Sie die junge Dame gesehen, Inspektor?», fragte Wells, immer noch die Straßen abspähend.
    |597| «Welche junge Dame meinen Sie?», fragte der junge Mann verwirrt.
    «Sie stand hier unter den Leuten. Aber es war etwas an ihr   …»
    Garrett sah ihn neugierig an.
    «Was wollen Sie damit sagen, Mr.   Wells?»
    Der Schriftsteller wollte ihm antworten, stellte jedoch fest, dass er nicht wusste, wie er ihm den merkwürdigen Eindruck beschreiben
     sollte, den die junge Dame auf ihn gemacht hatte.
    «Ich   … Vergessen Sie es, Inspektor», erwiderte er schulterzuckend. «Wahrscheinlich eine ehemalige Schülerin, die mir deswegen bekannt
     vorkam   …»
    Garrett nickte, nicht sehr überzeugt. Es war deutlich zu merken, dass ihm das Verhalten des Schriftstellers seltsam vorkam.
     Trotzdem hörte er auf ihn, und am nächsten Tag erschienen beide Texte, sowohl sein eigener als auch der des unbekannten Autors,
     in sämtlichen Londoner Zeitungen. Wenn sein Verdacht stimmte, dürfte die Information einem seiner Kollegen das Frühstück verhagelt
     haben. Wells wusste zwar nicht, wer der andere Autor war, der in diesem Augenblick dasselbe Panikgefühl verspüren würde wie
     er vor zwei Tagen, doch die Gewissheit, nicht der einzige Ansprechpartner des Zeitreisenden zu sein, erleichterte ihn etwas.
     Er fühlte sich nicht mehr allein in der Angelegenheit, und er verspürte auch nicht mehr die geringste Ungeduld, zu erfahren,
     was der Zeitreisende von ihnen wollte. Er war sicher, dass das Rätselspiel noch nicht beendet war.
    Und er sollte recht behalten.
     
    |598| Als am anderen Morgen die Kutsche von Scotland Yard bei ihm auftauchte, hatte er bereits gefrühstückt und saß wartend auf
     den Treppenstufen seines Hauses. Die dritte Leiche war eine Schneiderin namens Chantal Ellis. Der unerwartete Geschlechterwechsel
     verstörte Inspektor Garrett sichtlich, nicht jedoch Wells, der wusste, dass die Toten keinerlei Bedeutung hatten, sondern
     nur als Tafel dienten, auf die der Zeitreisende seine Botschaften schrieb. Der Satz, den er diesmal an eine Mauer der Weymouth
     Street geschrieben hatte, lautete:
     
    Die Geschichte hatte uns am flackernden Kaminfeuer in Atem gehalten; doch abgesehen von der naheliegenden Bemerkung, dass
     sie wirklich gruselig sei, wie es sich ja für eine seltsame Weihnachtsgeschichte in einem alten Hause gehört, erinnere ich
     mich an keinen weiteren Kommentar – nur dass irgendjemand beiläufig sagte, dies sei der einzige ihm bekannte Fall, dass solch
     eine Heimsuchung ein Kind betroffen habe.
     
    «Sagt Ihnen der Text etwas, Mr.   Wells?», fragte Garrett ohne große Hoffnung.
    «Nein», erwiderte der Schriftsteller, enthielt sich jedoch der Bemerkung, der komplizierte Satzbau käme ihm vage bekannt vor,
     wenngleich nicht ausreichend, um den Autor zu identifizieren.
    Und während Inspektor Garrett mit einem Dutzend Beamten zur
London Library
zog, entschlossen, alle Romane zu durchforsten, die in ihren Regalen standen, um jene herauszufinden, aus denen, mit welch
     finsterem Ziel auch immer, Shackleton mutmaßlicherweise zitiert hatte, |599| kehrte Wells nach Hause zurück und fragte sich, wie viele Unschuldige noch würden sterben müssen, bis der Zeitreisende sein
     Rätselspiel beendet hatte.
    Am nächsten Morgen blieb die Kutsche von Scotland Yard jedoch aus. Bedeutete das, dass der Zeitreisende alle Schriftsteller
     kontaktiert hatte, die er hatte kontaktieren wollen? Die Antwort fand Wells im Briefkasten. Dort lag ein Stadtplan von London,
     auf dem der Zeitreisende einen Treffpunkt markiert und zugleich einen Beweis dafür geliefert hatte, dass er sich nach Belieben
     durch die Zeit bewegen konnte, denn der Stadtplan stammte aus dem Jahr 1666 und war von dem tschechischen Kupferstecher Wenceslaus
     Hollar angefertigt worden. Voller Bewunderung betrachtete Wells die ausgezeichnete Arbeit, die eine Stadt zeigte, deren Antlitz
     nicht mehr dasselbe war, denn nur wenige Monate später war sie Opfer einer gewaltigen Feuersbrunst geworden; eines Brandes,
     wie Wells sich erinnerte, der in einer Bäckerei in der Stadtmitte entstanden war und sich wegen der in unmittelbarer Nähe
     liegenden Kohlen-, Holz- und Schnapslager mit rasender Geschwindigkeit ausgebreitet, bald schon die

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