Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
fiel, der die Stille der Nacht zerriss. Als
     seine Freunde ins Haus stürzten, fanden sie den Aristokraten tot auf dem Bett liegend, das Gesicht zu einer Fratze des Schreckens
     verzerrt. Die Kugel war in die hölzerne Fußleiste gefahren; ob sie vorher den substanzlosen Körper des Gespensts durchschlagen
     hatte, wusste man natürlich nicht. Dreißig Jahre später, als das Haus in der Liste der Spukhäuser Englands bereits einen führenden
     Platz eingenommen hatte, fand sich ein anderer wagemutiger junger Mann, ein gewisser Lord Lyttleton, der die Herausforderung
     annahm und den Angriff des Geistes überlebte, da er so vorausschauend gewesen war, mit einer mit Silbermünzen geladenen Schrotflinte
     ins Bett zu gehen. Lord Lyttleton sah die schreckliche Kreatur sogar zu Boden stürzen, wenngleich bei den nachfolgenden Ermittlungen
     nicht die Spur einer Leiche gefunden wurde, wie der Lord völlig fassungslos der berühmten Zeitschrift
Notes and queries
berichtete, die Wells in einem Buchladen gesehen und amüsiert durchgeblättert hatte. Die Gerüchte und Legenden waren sich
     auch keineswegs einig, warum es in dem Haus spuken sollte. Manche behaupteten, das Haus sei verflucht, weil zu einer Zeit
     Hunderte von Kindern in ihm gefoltert worden waren; andere hielten das Gespenst für eine Erfindung der Nachbarn, auf die diese
     wegen der markerschütternden Schreie des geistesgestörten Bruders eines der Mieter gekommen |604| waren, der angeblich in einem der Zimmer gefangen gehalten wurde; doch Wells’ Lieblingshypothese war die jener, die behaupteten,
     der Ursprung des Spuks sei darin zu suchen, dass ein gewisser Myers Nacht für Nacht mit einer Kerze in der Hand durch das
     Haus geschlurft sei, weil er keinen Schlaf mehr fand, nachdem seine Verlobte ihn wenige Tage vor der Hochzeit hatte sitzenlassen.
     In den letzten zehn Jahren war dann nichts mehr passiert, weshalb man annahm, das Gespenst habe die Nase voll von angeberischen
     jungen Männern, die ihren Mut beweisen wollten, und sei aus lauter Langeweile in die Hölle zurückgekehrt. Das Gespenst bereitete
     Wells jedoch den geringsten Kummer. Er hatte schon genug irdische Probleme, als dass er sich auch noch wegen der Fauna der
     jenseitigen Welt Sorgen zu machen gedachte.
    Er schaute die Straße hinauf und hinab, doch keine Menschenseele war zu sehen, und da sich der Mond im abnehmenden Viertel
     befand, war die Nacht stockfinster, sogar von undurchdringlicher Dunkelheit wie in den Gruselromanen, wollte ihm scheinen.
     Da auf dem Stadtplan keine Uhrzeit für das Treffen angegeben gewesen war, hatte Wells beschlossen, um acht Uhr abends zu kommen,
     der im zweiten Textfragment erwähnten Zeit. Er hoffte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und dem Zeitreisenden
     nicht als Einziger gegenübertreten zu müssen. Für alle Fälle war er bewaffnet. Da er keinen Revolver besaß, hatte er ein Fleischermesser
     mitgenommen, das er sich mit einer Schnur auf den Rücken gebunden hatte, wo es hoffentlich unbemerkt blieb, falls der Zeitreisende
     ihn nach Waffen absuchte. Von Jane hatte er sich wie ein richtiger Romanheld mit einem dramatisch langen Kuss verabschiedet, |605| dem sie sich nach anfänglicher Überraschung dann auch von ganzem Herzen hingegeben hatte.
     
    Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, überquerte Wells die Straße, holte noch einmal tief Luft, als wollte er sich in die Themse
     stürzen anstatt ein Haus betreten, und schob die Tür auf, die sich überraschend gefügig erwies. Er sah sogleich, dass er nicht
     der Erste war, denn mitten in der Halle stand ein dicklicher, kahlköpfiger Mann von etwa fünfzig Jahren, der die Hände in
     die Hosentaschen seines makellosen Anzugs versenkt hatte und bewundernd die geschwungene Treppe betrachtete, die sich im Halbdunkel
     des ersten Stockwerks verlor.
    Als er Wells hereinkommen hörte, wandte er sich um, streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich als Henry James vor. Dieser
     adrette Herr war also James! Wells kannte ihn nicht persönlich, wie er auch den Mikrokosmos der Clubs und Salons nicht kannte,
     in denen James verkehrte und die verborgensten Leidenschaften der Stammgäste buchstäblich witterte, wie Wells gehört hatte,
     um sie dann in einer Prosa zu Papier zu bringen, die ebenso wohlerzogen war wie sein Benehmen. Dass er ihm noch nie begegnet
     war, raubte ihm nicht gerade den Schlaf. Nachdem er nämlich
Die Aspern-Schriften
und
Die Damen von Boston
gelesen hatte, war er sogar ganz

Weitere Kostenlose Bücher