Die Landkarte der Zeit
Flair, um dortohne großes Aufsehen ein neues Leben zu beginnen. Dank der Kenntnisse, die du in Mr. Cowaps Apotheke erworben hattest, fand ich bald Anstellung in der Dorfapotheke, wo ich ein Jahr lang nichts anderes tat, als
tagsüber Salben und Arzneien zu verkaufen und nachts im Bett Radio zu hören und das langsame Heraufziehen eines Krieges zu
verfolgen, der die Weltordnung umstürzen sollte. Ich führte freiwillig ein bedeutungsloses Leben ohne Ziel, zu dem durch die
Dickschädeligkeit meiner geistlosen Mutter gezwungen zu sein ich stets gefürchtet hatte und in dem ich nicht einmal durch
Schreiben Abwechslung finden konnte, da ich damit rechnen musste, Marcus auf mich aufmerksam zu machen. Ich war ein Schriftsteller,
der gezwungen war, seiner Gabe zu entsagen, mit der er die Welt um sich her hätte erhabener machen können. Kannst du dir eine
größere Qual vorstellen? Ich auch nicht. Ich war zwar in Sicherheit, aber dafür in einem traurigen Dasein gefangen, bei dem
ich mich manchmal fragte, ob es die Mühsal des Überlebens eigentlich wert war. Doch dann kam jemand, der mein Leben wieder
mit Freude erfüllte: Sie hieß Alice und war bezaubernd. Eines Morgens betrat sie die Apotheke, um eine Schachtel Aspirin zu
kaufen, ein Azetylsalicylsäurepräparat, das von einer aufstrebenden deutschen
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Färbemittelfabrik vertrieben wurde, und stahl mir mein Herz, eingewickelt in Seidenpapier.
Unsere Liebe gedieh überraschend unkompliziert, kam sogar dem Krieg noch zuvor, und als der schließlich ausbrach, hatten Alice
und ich viel mehr zu verlieren als vorher. Zum Glück war der Krieg weit entfernt von unserem Dorf, das offenbar keine Bedrohung
für Deutschland darstellte, dessen Kanzler die Welt unter dem fragwürdigen Vorwand erobern wollte, dass in seinen Adern das
Blut einer Herrenrasse rann. Die furchtbaren Auswirkungen des Krieges konnten wir den dumpfen Geräuschen entnehmen, die der
Wind als Vorabmeldung der Zeitungsnachrichten zu uns trug, und ich begriff sofort, dass dieser sich von allen vorangegangenen
unterschied, weil die Wissenschaft ihn verändert und den Menschen Mittel an die Hand gegeben hatte, sich auf ganz neue Weise
gegenseitig umzubringen. Diesmal fand der Krieg in der Luft statt. Aber du darfst dir keine Heerscharen von Gasballons vorstellen,
aus denen aufeinander geschossen wird, mal sehen, wer zuerst in Flammen aufgeht. Der Mensch hatte nämlich den Himmel mit einer
fliegenden Maschine erobert, die schwerer war als Luft, ähnlich der, die sich Verne in seinem Roman
Robur der Eroberer
ausgedacht hatte; nur dass sie nicht aus Pappmaché bestand, dafür aber Bomben abwerfen konnte. Jetzt kam der Tod aus der Luft,
und er kündigte sich mit einem schreckenerregenden Heulen an. Aufgrund komplizierter Allianzen waren siebzig Länder in diesen
Krieg hineingezogen worden, doch bald hielt sich nur noch England auf den Beinen, während der Rest der Welt ungläubig auf
die Erschaffung einer neuen Ordnung starrte. Entschlossen, unseren Widerstand zu brechen, bombardierte
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Deutschland ohne Unterlass, und einem merkwürdigen Ehrbegriff folgend, der manchmal in Kriegszeiten zutage tritt, zuerst nur
unsere Flugplätze und Häfen, doch bald schon auch die Städte. Nach mehreren Nächten unablässigen Bombardements blieb von unserem
geliebten London nicht mehr als ein Trümmerfeld übrig, aus dem sich wie ein Zeichen unserer unbesiegbaren Zuversicht nur noch
die Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale erhob. Ja , England leistete Widerstand, ging sogar zum Gegenangriff mit überraschenden Luftschlägen über, von denen einer die historische
Stadt Lübeck zum großen Teil zerstörte. Das machte Deutschland noch wütender, und es verdoppelte seine Angriffe. Trotzdem
waren Alice und ich in Norwich relativ sicher, da der Ort von keinerlei strategischer Bedeutung war. Aber Norwich hatte drei
Sterne im berühmten Baedecker-Reiseführer, den man in Deutschland konsultierte, als dort beschlossen wurde, unser kulturelles
Erbe zu zerstören. Karl Baedeckers Reiseführer empfahl den Besuch unserer romanischen Kathedrale, unseres Schlosses aus dem
12. Jahrhundert und unserer zahlreichen Kirchen, doch der deutsche Kanzler zog es vor, dies alles zu bombardieren.
Der Krieg überraschte uns alle in der Kathedrale, wo wir der Predigt von Pater Helmore lauschten, dessen Stimme plötzlich
von einem beunruhigenden Pfeifen übertönt wurde, das vom Himmel kam.
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