Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
Alle richteten den Blick hinauf zum Fächergewölbe des
     Kirchenschiffs, als fiele uns jetzt erst die ganze Schönheit seiner Maserung auf. Doch der Schrecken des Krieges, von dem
     die Zeitungen täglich berichteten, war nun auch zu uns gekommen. Pater Helmore drängte uns, das Haus Gottes zu verlassen,
     weil er wohl ahnte, dass es eines der ersten Ziele der Deutschen
|668|
sein würde, und wenngleich einige sich nicht von der Stelle rührten, weil sie vor Angst wie erstarrt waren oder ihr Glaube
     ihnen sagte, dass es eine sicherere Zuflucht nicht gebe, nahm ich Alice bei der Hand und zerrte sie zum Ausgang, kämpfte uns
     einen Weg durch die verschreckte Menge, die den Mittelgang verstopfte. Wir gelangten nach draußen, als die ersten Bomben fielen.
     Wie kann ich dir diesen Schrecken beschreiben? Vielleicht reicht es, wenn ich dir sage, dass der Zorn Gottes vor dem Zorn
     des Menschen verblasst. Alle rannten in die verschiedensten Richtungen, während die Detonationen der Bomben die Erde erzittern
     und Häuser einstürzen ließ und die Luft mit brüllendem Donner erfüllte. Um uns herum ging die Welt unter, bäumte sich auf,
     wurde auseinandergerissen. Ich versuchte, ein sicheres Versteck für uns zu finden, konnte jedoch, während ich an der Hand
     von Alice durch das flammende Inferno stolperte, nur daran denken, wie wenig wert letzten Endes ein Menschenleben ist.
    Dann, mitten in jenem richtungslosen Lauf, merkte ich, wie mich ein hinlänglich bekanntes Schwindelgefühl überkam. In meinem
     Kopf pochte es, die Welt um mich herum begann zu verschwimmen, und ich ahnte, was nun kommen würde. Abrupt blieb ich stehen
     und bat Alice, sich mit aller Kraft an mir festzuhalten. Sie schaute mich verwirrt an, tat dann aber, was ich sagte, und während
     die Wirklichkeit vor mir verschwamm und mir mein Körpergewicht zum dritten Mal genommen wurde, biss ich die Zähne zusammen
     und versuchte, sie mit mir zu nehmen. Ich wusste nicht, wohin die Reise gehen würde, aber ich war entschlossen, sie nicht
     zurückzulassen, wie ich Jane zurückgelassen hatte, wie ich alles zurückgelassen hatte, was mir einmal lieb
|669|
gewesen war. Die Empfindungen, die mich bestürmten, waren dieselben wie bei den vorigen Malen: Ich fühlte mich einen Sekundenbruchteil
     lang wie schwebend, außerhalb meines Körpers, und dann kehrte ich in ihn zurück, richtete mich wieder in meiner leiblichen
     Hülle ein, doch diesmal fühlte ich eine warme Hand in der meinen. Blinzelnd öffnete ich die Augen, kämpfte gegen das bekannte
     Übelkeitsgefühl. Dann überkam mich ein großes Glücksgefühl, und ich musste lächeln, als ich Alice’ Hände sah, die ich umklammert
     hielt. Zarte Hände, die ich voller Dankbarkeit küsste, die in schlanke, von feinen blonden Härchen bedeckte Unterarme übergingen.
     Das Einzige, was ich von Alice mit herübergenommen hatte.
    Ich begrub Alice’ Hände in dem Garten, in dem ich gelandet war, in jenem Norwich des Jahres 1982, wo nur mehr ein Denkmal
     für die Gefallenen in der Mitte eines seiner Plätze an die furchtbaren Bombardements erinnerte. Unter all den Namen fand ich
     auch den von Alice, doch war ich mir nie ganz sicher, ob wirklich der Krieg sie getötet hatte oder Otto Lidenbrock, der Mann,
     der sie geliebt hatte. Wie auch immer; ich würde damit leben müssen, denn ich war den Bomben entkommen und wieder in der Zukunft
     gelandet. Wieder vierzig Jahre weiter, das schien die mir auferlegte Distanz zu sein.
    Ich befand mich jetzt in einer offenbar klügeren Welt, die Individualität ausstrahlte und etwas Spielerisches, Experimentierfreudiges
     hatte. Ja , es war eine laute, großspurige Welt, die ihre Leistungen zur Schau stellte wie ein stolzes Kind. Aber es war eine friedliche
     Welt, in der der Krieg nur noch eine lästige Erinnerung daran war, dass die menschliche Natur auch eine unmenschliche Seite
     besaß,
|670|
die man tunlichst unter der Maske künstlicher Höflichkeit verbarg. Die Welt hatte wiederaufgebaut werden müssen, und als die
     Menschen anfingen, die Trümmer beiseitezuräumen und die Toten zu beerdigen, neue Häuser zu bauen und Brücken über die Flüsse
     zu spannen, als die inneren und äußeren Wunden vernarbten, die der Krieg ihnen geschlagen hatte, da begriffen sie endlich,
     was eigentlich passiert war; begriffen , dass alles, was ihnen einmal vernünftig erschienen war, in Wirklichkeit unvernünftig war, wie ein Tanzabend ohne Musik. Ich
     musste unwillkürlich

Weitere Kostenlose Bücher