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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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lachen vor Erleichterung, denn so lebhaft, wie die Menschen um mich herum die Taten ihrer Großeltern
     verdammten, konnte unmöglich noch einmal ein solcher Krieg stattfinden, wie ich ihn erlebt hatte. Und ich muss dir sagen,
     ich habe mich nicht geirrt. Der Mensch ist lernfähig, Bertie , obwohl er dabei manchmal der Peitsche bedarf, so wie die Tiere im Zirkus.
    Ich musste jedenfalls wieder bei null anfangen, mir wieder eine neue verdammte Existenz aufbauen. Ich verließ Norwich, in
     dem mich nichts mehr hielt, und kehrte in das wiederaufgebaute London zurück, wo ich zuerst einmal den Fortschritt von Technik
     und Wissenschaft bestaunte, bevor ich mich auf die Suche nach einer Arbeit machte, die ein Mann des viktorianischen Zeitalters
     namens Harry Grant zu verrichten imstande war. Sollte das mein Schicksal sein? Immer allein, wie ein vom Baum gefallenes Blatt
     von Epoche zu Epoche geweht werden? Nein , diesmal nicht. Ich war allein, das stimmte, aber ich wusste, dass meine Einsamkeit nicht allzu lange anhalten würde. Auf
     mich wartete eine Begegnung in der Zukunft, ohne dass es nötig sein würde, dafür durch die Zeit zu reisen. Es handelte sich
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um eine Zukunft, die nahe genug lag, dass ich diesmal darauf warten konnte, dass sie zu mir kam.
    Zuvor jedoch schien die geheimnisvolle Hand, die mein Dasein organisierte, mich für eine andere Begegnung ausersehen zu haben,
     die mit meiner Vergangenheit zu tun hatte. Es passierte in einem Kino. Tja , Bertie , wie soll ich dir das erklären? Seit die Brüder Lumière 1895 den ersten Film von Arbeitern gezeigt haben, die aus den Lumière-Werken
     nach draußen strömen, hat die Cinematographie unglaubliche Fortschritte gemacht. In deiner Zeit hat noch niemand die unendlichen
     Möglichkeiten geahnt, die in dieser Erfindung steckten. Wenn der Reiz des Neuen erst verflogen ist, wollen die Menschen mehr
     auf der Leinwand sehen als Kartenspiele, balgende Kinder oder einfahrende Züge, diese alltäglichen Dinge, die sie auch sehen
     können, wenn sie aus dem Fenster schauen, sogar mit Ton. Sie wollen mehr sehen als triste Dokumentarfilme, bei denen der fehlende
     Ton durch Pianogeklimper ersetzt wird. Heutzutage erzählt der Filmprojektor ganze Geschichten. Zum besseren Verständnis stelle
     dir vor, eine Filmkamera filmte ein Theaterstück, bei dem das Bühnenbild aber nicht auf seinen üblichen Platz vor der ersten
     Reihe der Zuschauerstühle begrenzt ist, sondern jeder beliebige Ort auf der Welt sein kann. Wenn du dir dann noch vorstellst,
     dass der Regisseur nicht nur über eine Handvoll bemalter Leinwände als Hintergrund verfügt, sondern über unendlich viele technische
     Tricks, mit denen er zum Beispiel Menschen vor deiner Nase einfach verschwinden lassen kann, so wirst du verstehen, dass die
     Cinematographie die beliebteste Unterhaltungsform der Zukunft geworden ist und sogar das Amusement der Music Halls hinter
     sich gelassen hat. Tja , aus dem Apparat der
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Brüder Lumière ist eine technisch hochentwickelte Maschine geworden, die den Menschen die Wunder der Welt zeigt und magische
     Momente entstehen lassen kann. Eine ganze Industrie ist um sie her entstanden, in der unvorstellbare Mengen Geld bewegt werden.
    Ich erzähle dir dies alles, weil manche dieser Filmgeschichten aus Büchern stammen. Und jetzt kommt die Überraschung, Bertie : 1960 hat ein Regisseur namens George Pal aus deinem Roman
Die Zeitmaschine
einen Film gemacht. Ja , er hat deine Worte in Bilder umgesetzt. Mit Verne hatte man das schon vorher gemacht, aber das hat mir nicht gefallen. Wie
     soll ich dir erklären, was ich empfunden habe, als ich auf der Leinwand die Geschichte sah, die du geschrieben hast! Da war
     dein Erfinder, dem sie deinen Namen gegeben hatten, dargestellt von einem Schauspieler mit entschlossenem Gesicht und träumerischen
     Augen; und da war die liebliche Weena, die von einer wunderschönen französischen Darstellerin gespielt wurde; die Morlocks,
     furchterregender , als du sie dir jemals hättest ausdenken können, und die gewaltige Sphinx, der treue und praktisch denkende Filby, sogar Mrs.   Watchett mit ihrer Schürze und dem makellos weißen Häubchen. Und während die Szenen vor meinen Augen abliefen, saß ich bebend
     im Kinosessel und musste daran denken, dass dies alles gar nicht möglich wäre, wenn du es dir nicht ausgedacht hättest, wenn
     diese Flut von Bildern nicht zuerst in deinem Kopf gewesen wäre. Ich muss dir sogar gestehen,

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