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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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beim Frühstück sah er in der Zeitung das Faksimile eines Briefes, den der dreiste Mörder an
     die Nachrichtenagentur geschickt hatte und in dem er versicherte, dass man ihn nicht so leicht fassen und er weitere Morde
     begehen werde, sein hübsches Messer an den Huren von Whitechapel wetzen werde. Der Brief war mit roter Tinte geschrieben und
     mit
Jack the Ripper
unterzeichnet, ein deutlich beunruhigenderer und aufsehenerregenderer Name, musste Andrew zugeben, als der wenig einfallsreiche
     Spitzname
Mörder von Whitechapel,
unter dem er bislang bekannt war. Dieser neue, von der Presse propagierte Alias, der unwillkürlich an den Romanbösewicht Jack
     Lightfoot und dessen Art, mit Frauen umzugehen, erinnerte, wurde von der Allgemeinheit rasch aufgenommen. Andrew stellte das
     jedes Mal fest, wenn er in das Viertel kam und hörte, wie der Name mit perverser Erregung ausgesprochen wurde, als wäre es
     für die armen Seelen von Whitechapel etwas |74| Aufregendes und sogar Modernes, dass ein erbarmungsloser Messermörder ihre Gegend unsicher machte. Und da Scotland Yard nach
     Abdruck des Briefes unter einer wahren Flut ähnlicher Schreiben begraben wurde, in denen der mutmaßliche Mörder sich über
     die Polizei lustig machte, sich mit kindischem Stolz seiner Verbrechen rühmte und weitere Drohungen ausstieß, kam Andrew zu
     dem Schluss, dass England voll von Kerlen sein musste, die ein bisschen Aufregung in ihr Leben zu bringen suchten, indem sie
     sich als Mörder fühlten; normale Menschen, von sadistischen Instinkten und krankhaften Trieben beherrscht, die zum Glück auf
     andere Art niemals zum Ausbruch kommen würden. Abgesehen davon, dass er die polizeilichen Ermittlungen erschwerte, machte
     dieser unfreiwillige Massenimpuls aus dem gewöhnlichen Kerl, den Andrew im Durchgang der Hanbury Street angerempelt hatte,
     ein Ungeheuer, das offenbar dazu herhalten musste, den ältesten Ängsten des Menschen Gestalt zu verleihen. Vielleicht war
     es diese unkontrollierte Vermehrung von Anwärtern auf die Urheberschaft seiner makabren Taten, die den wahren Mörder dazu
     trieb, sich in der Nacht des 30.   September selbst zu übertreffen. Im Hof des Sägewerks Dutfield ermordete er die Schwedin Elizabeth Stride – die Hure, die
     Andrew auf Maries Spur gebracht hatte, als er zum ersten Mal in Whitechapel war   –, und kaum eine Stunde später schlitzte er in aller Ruhe Catherine Eddowes auf dem Mitre Spuare auf, riss ihr die linke Niere
     und eine Handvoll Innereien heraus und schnitt ihr sogar noch die Nase ab.
    So begann ein kalter Oktober und legte seinen Trauerflor aus fatalistischer Resignation über die unglücklichen |75| Bewohner von Whitechapel, die sich trotz der Bemühungen Scotland Yards mehr denn je ihrem Schicksal überlassen fühlten. In
     den Augen der Huren stand Hilflosigkeit geschrieben, aber auch ein sonderbares Sichfügen in ihre schreckliche Bestimmung.
     Das Leben wurde jetzt zu einem langen, gespannten Warten, in dem Andrew Marie Kellys zitternden Körper fest in seine Arme
     nahm und ihr sanft ins Ohr flüsterte, sie brauche sich nicht zu ängstigen, wenn sie die Jagdgründe des Rippers mied, die dunklen
     Hinterhöfe und menschenleeren Gassen, die dieser mit seinem blutdürstigen Messer durchstreifte, bis die Polizei seiner habhaft
     würde. Aber seine Worte hatten nicht die geringste Wirkung auf eine verstörte Marie Kelly, die sogar anderen Huren Unterschlupf
     gewährte in ihrem winzigen Zimmerchen in Miller’s Court, um sie von den unsicheren Gassen fernzuhalten, was ihr Ärger mit
     Joe einbrachte, in dessen Verlauf ihr Mann ein Fenster zerschlug. In der nächsten Nacht gab Andrew ihr das nötige Geld, um
     das Loch in der Scheibe reparieren zu lassen, durch das die schneidende Kälte ins Zimmer drang. Sie jedoch verwahrte das Geld
     im Nachtschränkchen und legte sich artig aufs Bett, damit er sie nahm. Doch diesmal bot sie ihm nur einen Körper an, ein erkaltendes
     Feuer, und jenen schmerzlichen, kummervollen Blick, mit dem sie ihn all die Tage angeschaut hatte und in dem er einen verzweifelten
     Hilfeschrei zu sehen glaubte, eine stumme Bitte, sie dort herauszuholen, bevor es zu spät war.
    Als hätte er mit einem Mal vergessen, was ein Blick alles enthalten kann, wollte Andrew dieses auffällige Begehren nicht wahrhaben,
     da er sich einfach nicht in der Lage fühlte, den Lauf der Welt anzuhalten, was für ihn persönlich |76| ja nicht einmal alles sein würde: Er müsste

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