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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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bevor die von Lusk angeführte Meute eintraf, als wären sie alle
     einer Art von Choreographie gefolgt. Andrew mochte gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn er nur ein paar Minuten
     länger gewartet und die Bürgerwehr ihn bei Marie Kellys Leiche angetroffen hätte. Glück im Unglück, sagte er sich, riss die
     Titelseite heraus, faltete sie zusammen, steckte sie in die Innentasche seiner Jacke und bestellte eine weitere Flasche, um
     zu feiern. Sein Herz war zwar unwiderruflich zerbrochen, aber wenigstens war er nicht von einem wütenden Mob verprügelt worden.
     
    Acht Jahre später zog Andrew die herausgerissene Titelseite wieder aus der Tasche. Sie war von der Zeit vergilbt wie er selbst.
     Wie oft hatte er sie gelesen, hatte sich Marie Kellys entsetzliche Verstümmelungen wieder und wieder zugemutet, als wäre es
     eine auferlegte Buße! Von den ganzen vergangenen acht Jahren war ihm kaum etwas anderes im Gedächtnis geblieben. Was hatte
     er in dieser Zeit gemacht? Schwer zu sagen. Er erinnerte sich vage, dass Harold, nachdem er alle Kneipen und Pubs der Gegend
     abgeklappert hatte, ihn bewusstlos in dem Lokal entdeckt und nach Hause gebracht hatte. Dort hatte er mehrere Tage mit Fieber
     im Bett gelegen und sich in Albträumen |96| gewälzt, in denen Marie Kellys Leiche neben ihm lag, ihre Eingeweide nach einem unergründlichen Muster im ganzen Zimmer verstreut,
     oder er selbst sie unter Reeses aufmunternden Blicken mit einem riesigen Messer aufschlitzte. In einem seiner lichten Momente
     erkannte er seinen Vater, der aufrecht auf der Bettkante saß und ihn wegen seines Verhaltens um Verzeihung bat. Aber es war
     leicht, sich jetzt zu entschuldigen, da nichts mehr akzeptiert werden musste, da er sich nur noch der theatralischen Niedergeschlagenheit
     anschließen musste, die er der ganzen Familie, einschließlich Harold, verordnet hatte. Andrew schickte seinen Vater mit einer
     ärgerlichen Handbewegung fort, welche der stolze William Harrington zum noch größeren Ärger seines Sohnes unverzüglich als
     Segen interpretierte, wie sein zufriedenes Lächeln verriet, mit dem er das Zimmer verließ, als habe er einen vorteilhaften
     Abschluss getätigt. William Harrington hatte sein Gewissen beruhigen wollen, und das war ihm gelungen, ob Andrew wollte oder
     nicht. Jetzt konnte er die Angelegenheit vergessen und sich wieder ungestört seinen Geschäften widmen. Im Grunde war es Andrew
     egal, da er und sein Vater sich noch nie verstanden hatten; warum sollten sie es jetzt tun.
    Er erholte sich von seinem Fieber zu spät für Marie Kellys Beerdigung, aber nicht für die Hinrichtung ihres Mörders. Trotz
     der Proteste einiger Mediziner, für die das monströse Gehirn dieses Reese ein wertvolles Studienobjekt für die Wissenschaft
     war, da in seinen Wülsten und Falten die Verbrechen zu lesen sein mussten, die zu begehen er von Geburt an bestimmt gewesen
     war, wurde der Ripper im Gefängnis von Wandsworth gehängt. Andrews |97| Anwesenheit war wie eine Anspielung, und er sah zu, wie der Henker Reese das Leben nahm, ohne dass dadurch Marie Kellys oder
     das einer ihrer Kolleginnen wiederhergestellt wurde. So funktionierten die Dinge eben nicht. Der Schöpfer wusste nichts von
     Tauschhandel; er kannte nur den Lohn. Wenn es hoch kam, wurde in dem Augenblick, als der Strick den Hals des Rippers brach,
     irgendwo ein neues Kind geboren; aber Tote ins Leben zurückholen war doch eine andere Sache. Vielleicht lag es daran, dass
     viele Menschen an seiner Macht zu zweifeln begonnen hatten und sich sogar fragten, ob wirklich ER es gewesen war, der die
     Welt erschaffen hatte. Am selben Nachmittag geriet Marie Kellys Bild in der Bibliothek der Winslows durch Funkenflug aus einer
     Lampe in Brand. So jedenfalls erklärte es sein Cousin, der gerade noch rechtzeitig gekommen war, um das Feuer zu löschen.
    Andrew dankte Charles für diese Geste, doch die Geschichte wurde nicht einfach dadurch abgeschlossen, dass man das Motiv auslöschte,
     dessentwegen alles angefangen hatte. Nein, sie war unauslöschlich. Dank der Großzügigkeit seines Erzeugers konnte Andrew zwar
     sein altes Leben wiederaufnehmen, doch sah er wenig Nutzen darin, wieder Erbe jenes ungeheuren Vermögens zu sein, das Vater
     und Bruder angehäuft hatten. Seine inneren Wunden konnte es nicht heilen; aber er entdeckte schnell, dass es ihm half, wenn
     er es in den Opiumhöhlen der Poland Street verschleuderte. Er hatte so viel getrunken, dass

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